Z W E I  L E I C H E N  I M  O R I E N T - E X P R E S S

Ein Fall für Professor van Dusen



Kriminal-Hörspiel
von
Michael Koser

(unter Verwendung zweier Figuren
            von Jacques Futrelle)





PERSONEN:

Professor van Dusen
Hutchinson Hatch
Professor Hinkeldey
Frau Hinkeldey
Miss Isobel Deer
Kronprinz Boris von Bulgarien
Stojan, sein Kammerdiener
Schaffner im Orient-Express
Monsieur Papillon, Chefkoch im Orient-Express
Ober



                        - 1 -

REGIE: Van Dusens Schlafwagen-Abteil im stehenden Zug. Hatch
       klopft kurz, öffnet sofort die Tür und tritt ein.
Hatch (munter): Guten Morgen, Professor. (geht durchs Abteil)
       Wachet auf, wachet auf, es krähte der Hahn. (zieht Fenster-
       vorhang auf) Morgenstunde hat bekanntlich Gold im Munde.
vanD (mürrisch): Wie spät?
Hatch: Sieben Uhr durch, Professor - und die Sonne scheint.
vanD.: So? Geben Sie mir mein Notizbuch.
Hatch: Sagten Sie Notizbuch?
vanD.: Ja doch! Gestern abend, kurz vor dem Einschlafen, hatte
       ich einen höchst interessanten Gedanken - im Zusammenhang
       mit meiner atomaren Strukturtheorie, von der Sie ohnehin
       nichts verstehen. - Da, auf der Ablage. Etwas schneller,
       wenn ich bitten darf.
Hatch: Bitte sehr, Professor.
REGIE: Kurze Pause. Van Dusen macht Notizen, Hatch pfeift oder
       summt ein bißchen. Dann:
Hatch: Fällt Ihnen nichts auf, Professor?
vanD. (abwesend): Nein.
Hatch: Und heute nacht haben Sie auch nichts gemerkt?
vanD.: Wie Sie wissen, mein lieber Hatch, erfreue ich mich eines
       gesegneten Schlafes, auch auf Reisen. Was ist geschehen?
Hatch: Sehen Sie mal aus dem Fenster.
vanD.: Wenn's sein muß. (steigt aus dem Bett, geht ans Fenster)
       Aha. Wir stehen.
Hatch: Scharfsinnig bemerkt, Professor.
vanD. (nachdenklich): Sieben Uhr... sieben Uhr... da sollten wir
       schon längst in Sofia sein. Aber das ist nicht Sofia!
Hatch: Sieht nicht so aus. Wolkenkratzer habe ich zwar nicht er-
       wartet - aber daß die Hauptstadt des Fürstentums Bulgarien
       nur aus drei Bergen, zwei Ziegen und einem Maisfeld be-
       steht, das kann ich mir eigentlich auch nicht vorstellen.
vanD.: Ihre Aufzählung ist unvollständig, mein lieber Hatch.
Hatch: Habe ich was vergessen?
vanD.: In der Tat - und zwar unrasierte Militärpersonen, diverse,
       mit aufgepflanztem Bajonett.
Hatch: Nanu? (zum Fenster) Ja, das sind bulgarische Soldaten, eine
       ganze Menge. Die bewachen unsern Zug!
vanD.: So scheint es, mein lieber Hatch. Erstaunlich...
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                        - 2 -

Hatch: Der Orient-Express stand höchst fahrplanwidrig im Gelände
       herum, in den Schluchten des Balkans, irgendwo in Bulga-
       rien: Das war das erste merkwürdige Faktum am Morgen je-
       nes überaus merkwürdigen 10. August 1904 - und das zwei-
       te folgte sogleich.
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REGIE: Van Dusens Abteil. Draußen, auf dem Korridor, schreit Frau
       Hinkeldey laut auf, mehrmals. Eine Tür klappt - Unruhe.
vanD.: Was war das?
Hatch: Was fragen Sie mich, verehrter Professor? Sie wissen doch
       sonst immer alles.
vanD.: Jemand hat geschrien.
Hatch: Den Eindruck hatte ich auch.
vanD.: Ein weibliches Wesen, in Bedrängnis. Sehen wir nach dem
       Rechten. (zur Tür, drückt Klinke herunter)
Hatch: Moment, Professor. Nichts gegen Ihren bordeaux-roten Pyja-
       ma, ausgesprochen schick - aber falls Sie einen öffentli-
       chen Auftritt im Korridor planen, sollten Sie sich viel-
       leicht doch etwas kompletter bekleiden.
vanD.: Reden Sie nicht soviel, reichen Sie mir lieber meinen Mor-
       genrock. Beeilen Sie sich!
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Hatch: So, meine verehrten Damen und Herren, begann der Fall der
       zwei Leichen im Orient-Express - und wenn ich Ihnen hier
       feierlich versichere, daß es sich dabei um das haarsträu-
       bendste Abenteuer des Professors überhaupt handelt, dann
       will das etwas heißen. Denn Professor Doktor Doktor Doktor
       Augustus van Dusen, die weit und breit berühmte "Denkma-
       schine", der große Wissenschaftler und Kriminologe, hat es
       sehr oft mit schrecklichen, makabren, blutrünstigen Fällen
       zu tun. Glauben Sie mir: Ich, Hutchinson Hatch, bin ganz
       bestimmt kein ausgesprochen sensibler Mensch - dann wäre
       ich als Journalist auch fehl am Platze. Aber wenn ich an
       diese Geschichte im Orient-Express denke, läuft's mir noch
       heute eiskalt den Rücken herunter. Doch es hilft nichts,
       ich muß meiner Chronistenpflicht nachkommen. - Also. Wie
       gesagt, der Express hielt auf freiem Feld, im Korridor un-
       seres Schlafwagens schrie eine Frau - und wir, van Dusen
       und ich, eilten nach draußen, um nach dem Rechten zu sehen.
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                        - 3 -

REGIE: Im Korridor. Die Hinkeldeys, van Dusen, Hatch.
FrauH: Oh Hugo - es war ja so gräßlich! (stöhnt)
Hink.: Fasse dich, geliebtes Weib. Wie sagt Horaz? Aequám meménto
       rébus in arduís serváre méntem. Fasse dich.
Hatch: Ist was passiert?
Hink.: Passiert, mein Herr? Passiert? Nicht das mindeste, mein
       Herr. Lediglich ein wenig Mord und Totschlag. Und Sitten-
       losigkeit ungeheuerlichen Ausmaßes. Das ist passiert,
       mein Herr. Mehr nicht.
Hatch: Wird wohl halb so schlimm sein.
Hink.: Halb so schlimm? O témpora, o móres! Wie tief ist unsere
       vielgerühmte Zivilisation gesunken, wenn meine Gattin,
       eine gebildete Dame von unantastbarem Ruf -
Hatch: Versteht sich.
Hink.: Wenn sie sich, wie es sich ziemt, des Morgens unschulds-
       vollen Herzens zum Waschraum für Damen begibt, die Tür öff-
       net, nichts Böses ahnend, und, zuerst ungläubig, dann
       entsetzt, schauen muß - ja, was wohl, meine Herren?
Hatch: Nach dem Krawall, den Sie veranstalten, vermutlich einen
       Mann.
Hink.: Jawohl, einen Mann - im Waschraum für Damen! Und damit
       nicht genug - zu allem Überfluß war der Mann auch noch tot!
       Und - kaum wage ich es auszusprechen - er war gänzlich
       unbekleidet!
vanD.: Tot?
Hatch: Allmählich wird's interessant.
Deer (öffnet Abteiltür, kommt näher): Was höre ich da? Ein nackter
       Mann in der Damen-Toilette? Sowas! Erzählen Sie.
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Hatch: Ich darf mal kurz vorstellen: Der volltönende Herr mit
       dem fließenden Latein war Professor Hugo Hinkeldey aus
       Heidelberg, Archäologe - unterwegs nach Troja mit seiner
       Schippe und seiner Gattin, die sich über den Anblick auf
       der Toilette überhaupt nicht mehr einkriegen konnte. Zu
       dieser Gruppe stieß Miss Isobel Deer, eine jener uner-
       schütterlichen englischen Damen, die zu ihrem Vergnügen
       in der Welt herumreisen. Sie kennen vielleicht ihre Bücher:
       "Weiße Frau unter Kannibalen" und "Im Damensattel über die
       Anden".
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                         - 4 -

REGIE: Im Korridor.
Hink.: Ich sage nur: Der Untergang des Abendlandes!
Hatch: Mindestens.
FrauH: Oh Hugo! (stöhnt)
Deer:  Riechsalz hat wohl keiner der Herren bei sich? In diesem
       Fall empfiehlt sich eine kräftige Ohrfeige. Wirkt Wunder.
       Gestatten Sie, Professor Hinkeldey?
Hink.: Unterstehen Sie sich!
vanD.: Bitte, meine Herrschaften, halten wir uns nicht mit Neben-
       sächlichkeiten auf. Frau Hinkeldey hat, wie es scheint,
       einen leichten Schock erlitten. Unbedingte Bettruhe, ein
       Sedativ -
Hink.: Was verstehen Sie denn davon?
vanD.: Expérto créde, Herr Kollege. Ich bin, unter anderem, Medi-
       ziner. Also bringen Sie Ihre Gattin zu Bett. Und was jenen
       mysteriösen Toten betrifft - angesichts der Umstände hat
       wohl niemand etwas dagegen, wenn ich mir erlaube, den
       Damen-Waschraum zu betreten, um mich zu vergewissern?
Deer:  Nur zu, Professor, tun Sie sich keinen Zwang an. - Wo Sie
       nun mal das Heft in die Hand genommen haben - Sie wissen
       nicht zufällig, warum wir hier halten und nicht weiterfah-
       ren?
vanD.: Darum werden Sie sich kümmern, mein lieber Hatch. Machen
       Sie sich auch ein wenig nützlich.
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Hatch: Gott, warum nicht? Ich ging auf die Suche nach dem Schaff-
       ner, fand ihn im nächsten Wagen, in seinem Abteil, und er-
       kundigte mich, wo wir eigentlich waren.
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REGIE: Im Abteil.
Scha.: Etwa dreißig Kilometer vor Sofia, mein Herr. In den Ausläu-
       fern des Stara-Plánina-Gebirges, wenn Sie's genau wissen
       wollen.
Hatch: Aha. Ausgesprochen reizvolle Landschaft, was?
Scha. (zweifelnd): Finden Sie, mein Herr?
Hatch: Na, weshalb halten wir denn sonst so lange?
Scha.: Ach, das meinen Sie, mein Herr. Nein, dafür gibt's leider
       einen anderen Grund.



                        - 5 -

Hatch: Was Sie nicht sagen.
Scha.: Direkt vor uns liegt die Schlucht des Flusses Isker - und
       die Eisenbahnbrücke über die Schlucht ist zur Zeit nicht
       befahrbar.
Hatch: Eingestürzt?
Scha.: Nicht doch, mein Herr. Lediglich einige altersbedingte
       Schäden, an deren Beseitigung bereits zügig gearbeitet wird.
Hatch: Wie schön. Und wann geht's weiter?
Scha.: Wir hegen die berechtigte Hoffnung, daß wir unter Umstän-
       den noch heute abend unsere Fahrt fortsetzen können. Es
       ist nicht unmöglich, mein Herr.
Hatch: Dann müssen wir uns also mindestens einen ganzen Tag in
       Geduld fassen, wenn nicht gar mehrere?
Scha.: Zu unserem größten Bedauern, mein Herr. Höhere Gewalt...
Hatch (im Gehen): Ach, sagen Sie mal - wenn wir so lange warten
       müssen, warum fahren wir nicht einfach ein Stück zurück?
       Ins nächste Dorf, mit Bahnhofs-Büffet und etwas interes-
       santerer Aussicht?
Scha.: Leider unmöglich, mein Herr. Im nächsten Dorf - es heißt
       Dragoman - ist heute nacht ein Bauernaufstand ausgebro-
       chen. Das kommt hier häufig vor.
Hatch: Nettes Land. Deshalb wohl auch die militärische Bedeckung?
Scha.: Ja und nein, mein Herr. Der eigentliche Grund dafür ist
       die Tatsache, daß sich eine hochwichtige Persönlichkeit
       im Zug befindet.
Hatch: Professor van Dusen, ich weiß.
Scha.: Auf den Herrn Professor bezieht sich das an sich weniger.
       (leiser) Unter uns, mein Herr: Unseren Express beehrt Sei-
       ne Königliche Hoheit Kronprinz Boris von Bulgarien. In-
       kognito.
Hatch: Ach was. Wo denn?
Scha.: In Ihrem Wagen, mein Herr.
Hatch: In meinem Wagen... meinen Sie etwa diesen Bengel in Abteil
       Sieben, der in Belgrad zugestiegen ist?
Scha.: Ich bitte Sie, mein Herr! Ein Kronprinz, auch ein erst
       zehnjähriger, ist kein Bengel! - Aber ansonsten haben Sie
       Recht, mein Herr. Hoheit halten sich in Abteil Sieben auf -
       daneben, rechts und links, sein Kammerherr, Graf Parásow,
       und sein Diener.
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                        - 6 -

Hatch: Interessant, dachte ich, aber nicht weiter wichtig - ich
       ahnungsloser Engel! Dann informierte ich den Schaffner über
       die seltsame Entdeckung der Frau Professor Hinkeldey und
       nahm ihn, der Einfachheit halber, gleich mit in unsere Da-
       men-Toilette. Und tatsächlich - da hing einer am Wasser-
       kasten, splitternackt und mausetot. Van Dusen, der sich
       inzwischen angezogen hatte, wanderte um die Leiche herum
       und war gerade damit beschäftigt, ihre Hände durch eine
       Lupe zu inspizieren.
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REGIE: In der Damen-Toilette.
vanD.: So... Tragen Sie ein Taschenmesser bei sich, Schaffner?
Scha.: Jawohl, Herr Professor.
vanD.: Steigen Sie aufs Becken, schneiden Sie ihn ab.
REGIE: Entsprechende Geräusche.
vanD.: Sie halten ihn fest, Hatch... gut so. Und jetzt hinlegen...
       vorsichtig... so.
Hatch: Uff. Schwerer Brocken.
vanD.: Mir ist der Mann gänzlich unbekannt. Kennen Sie ihn?
Hatch: Nie gesehn.
Scha.: Ich auch nicht, Herr Professor.
vanD.: Interessant. Sie als Schaffner sollten eigentlich alle
       Passagiere Ihres Zuges kennen.
Scha.: Das tue ich auch, Herr Professor. Jeden einzelnen!
vanD.: So so. Sehr interessant...
Hatch: Sieht wie Selbstmord aus - was, Professor?
vanD.: Ausgeschlossen, mein lieber Hatch. Werfen Sie doch nur
       einen Blick auf seine Hände.
Hatch: Hände? Wieseo?
vanD.: Fällt Ihnen nichts auf?
Hatch: Tja...
vanD.: Selbstverständlich meine ich nicht die ins Auge springen-
       den Tatsachen, daß der Tote etwa fünfzig Jahre alt war -
       unverheiratet - Beamter -
Hatch: Langsam, Professor. Fünfzig Jahre, das ist klar, das sieht
       man - aber wieso unverheiratet?
vanD.: Nur die Augen aufmachen, mein lieber Hatch. Sehen Sie an
       der rechten oder linken Hand einen Ehering - oder auch nur
       den Abdruck eines Rings?


                       - 7 -

Hatch: Ach so... Und wie kommen Sie auf den Beamten?
vanD.: Tief eingefressene Tintenspuren am rechten Mittel- und
       Zeigefinger - und wenn Sie dies in Verbindung bringen mit
       den Sitzschwielen am Gesäß, mit der bleichen Hautfarbe und
       dem stark entwickelten Embonpoint...
Hatch: Sagen Sie doch gleich Schmerbauch.
Scha.: Wenn ich mir erlauben darf, Herr Professor: grandios!
Hatch: Elementar, mein Lieber - für einen Professor van Dusen.
vanD.: Zu gütig. - Wie gesagt: Das alles war es nicht, worauf ich
       Ihre Aufmerksamkeit lenken wollte.
Hatch: Sondern?
vanD.: Ein Mensch, welcher Selbstmord durch Erhängen zu begehen
       beabsichtigt, berührt zwangsläufig den Strick mit seinen
       Händen: wenn er ihn befestigt und sich um den Hals legt.
       Dabei bleiben, ebenso zwangsläufig, Fasern des stricks an
       seinen Handflächen zurück. Bei diesem Toten nun ist selbst
       mit der Lupe keine Spur einer Faser zu erkennen. Das heißt:
       Er ist aufgehängt worden.
Hatch: Mord, Professor?
vanD.: Nicht unbedingt, mein lieber Hatch. Ich will Sie jetzt
       nicht mit medizinischen Details langweilen, die Ihnen we-
       nig sagen - aber soviel steht fest: Als dieser Mann aufge-
       hängt wurde, war er bereits tot.
Hatch: Sie meinen, schon vorher...?
vanD.: Eindeutig. Und das ist nicht das einzige, was mich an die-
       ser Sache eigenartig berührt.
Hatch: Was denn noch, Professor?
vanD.: Zum Beispiel die Tatsache, daß der Tote selbst unserem
       Schaffner hier unbekannt ist... Nun, wie auch immer: Es
       handelt sich ohne Frage um einen Fall für die Polizei in
       Sofia; wir wollen hoffen, daß sie bald in die Lage versetzt
       wird, sich damit zu beschäftigen. Bis es so weit ist, wer-
       den sie die Leiche an einem nicht allgemein zugänglichen
       Ort ablegen.
Scha.: Zu Befehl, Herr Professor. Am besten gleich nebenan, in
       Abteil Eins, das steht nämlich leer.
vanD.: Ausgezeichnet. Und wir, mein lieber Hatch...
Hatch: Ja, Professor?




                        - 8 -

vanD.: Wir werden uns die Hände waschen, und dann gehen wir eine
       Kleinigkeit frühstücken.
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Hatch: Ausgezeichnete Idee. Fünf Minuten später saßen wir im
       Speisewagen - und wer uns da Kaffee und Brötchen an den
       Tisch brachte, war kein Geringerer als Monsieur Papillon,
       der Chefkoch des Orient-Express persönlich.
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REGIE: Speisewagen. Man frühstückt. Papillon bedient van Dusen
       und Hatch.
Pap.:  Eh bien, was soll man maken, Messieurs? C'est une confusion
       véritable. Kein garçon - comment ça veut dire? Kellner,
       kein Knabe für Küsche. Isch bin tout seul - allein. Il
       faut servir, bedienen, isch! In Küsche kochen Café, isch!
       Isch, le grand chef! Ha!
vanD.: Mein Beileid, Monsieur Papillon. Und warum das?
Pap.:  Pourquoi, Monsieur? Alter Kellner ausgestiegen heute nackt
       an frontière serbe-bulgare, an Grenze - neuer soll zustei-
       gen Sofia, pour le petit dejeuner, Frühstück, Sie verstehn.
       Mais - kein Sofia, kein Kellner. Le train, er ält ier,
       wer weiß, wie lang - ein Tag, ßwei Tag, drei Tag, viel
       Tag peut-être...
Hatch: Um Gotteswillen, das wollen wir doch nicht hoffen.
vanD.: Haben Sie denn genug Lebensmittel, um uns notfalls ein paar
       Tage durchzufüttern?
Pap.:  Ne vous inquiétez pas, Monsieur - genug Fleisch, Gemüse et
       caetera. Aber wie lang es sisch ält...
Hatch: Wie meinen Sie?
Pap.:  Le temps, Monsieur, das Wetter! Sehr, sehr warm pour sep-
       tembre. Und isch abe nischt viel de la glace - Eis, Mon-
       sieur, in meine Eisbox. Neu Eis in Sofia, wie Kellner.
       Oh, Messieurs, c'est typique! Les pays balkaniques, der
       Balkan, Messieurs!
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Hatch: Nach dem Frühstück machten wir einen kleinen Verdauungs-
       Spaziergang durch die Korridore. Als wir in unserem Wagen
       an der Tür zu Abteil Sieben vorbeikamen, tat sie sich auf;
       ein Diener in Livree trat heraus und uns in den Weg.
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                         - 9 -

REGIE: Im Korridor.
Stoj.: Professor van Dusen?
vanD.: Das ist mein Name.
Stoj.: Der große Kriminologe?
vanD.: So sagt man.
Stoj.: Darf ich Sie in diesem Falle bitten, näher zu treten? Sei-
ne Königliche Hoheit wünscht Sie zu sprechen.
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Hatch: Der Wunsch war uns Befehl. Hoheit stopfte sich gerade mit
       Marmeladenbrötchen und ließ sich auch durch unser Erschei-
       nen im Abteil nicht stören.
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REGIE: Im Abteil des Kronprinzen.
Stoj.: Setzen Sie sich, meine Herren.
Boris (mit vollem Mund): Sag Ihnen, was los ist, Stójan.
Stoj.: Sehr wohl, Königliche Hoheit. - Meine Herren. Seine König-
       liche Hoheit geruht, Sie gnädigst zu grüßen. Des weiteren
       wünscht er Ihnen mitzuteilen, daß sein persönlicher Adju-
       tant und Kammerherr, Graf Parásow, heute nacht verschwun-
       den ist.
Hatch: Ach du dickes Ei! Das muß einer von diesen Tagen sein...
vanD.: Hatch!
Stoj.: Seine Königliche Hoheit kennt Ihren Ruf, Herr Professor,
       und würde sich überaus glücklich schätzen, wenn eine Kapa-
       zität wie Sie sich des Falles annehmen würde.
Hatch: Nicht nötig. Der Fall ist schon gelöst, und zwar von mir!
vanD.: Hatch!
Hatch: Lassen Sie mich doch auch mal, Professor. - Gehe ich fehl
       in der Annahme, daß Graf Parasow um die fünfzig ist und
       ziemlich dick?
Boris: Quatsch! Sag's ihm, Stojan.
Stoj.: Seine Königliche Hoheit bedauert sehr: Graf Parasow ist
       schlank, sportlich und neunundzwanzig Jahre alt.
Hatch: Ach... ich dachte...
vanD.: Lassen Sie das Denken, Hatch, das bekommt Ihnen nicht. -
       Ihr Vertrauen ehrt mich, Königliche Hoheit -
Boris: Moment. Der Tote im Klo, Stojan.
Stoj.: Ferner meint Seine Königliche Hoheit, daß Sie, Herr Pro-



                        - 10 -

Stoj.: fessor, sich ebenfalls der Angelegenheit des Unbekannten
       widmen sollten, der im Waschraum für Damen erhängt aufge-
       funden wurde.
Hatch: Nebenbei, ganz auf die Schnelle...
Stoj.: Zu diesem Zwecke ernennt Seine Königliche Hoheit Sie kraft
       seiner Stellung zum provisorischen Polizeichef dieses Be-
       zirks.
Hatch: Sieh mal an. Hohes Gehalt?
Stoj.: Ehrenhalber, versteht sich. Sie haben damit volle Autorität
       über diesen Zug und alle seine Passagiere.
vanD.: Ich danke Seiner Königlichen Hoheit für diese Ehre. Einver-
       standen.
Boris: Prima. Denn man los
Stoj.: Seine Königliche Hoheit ist äußerst glücklich über Ihre Zu-
       stimmung, Herr Professor, und bittet Sie, sofern es Ihnen
       genehm ist, auf der Stelle mit Ihren Nachforschungen zu
       beginnen.
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Hatch: Darum braucht man Professor van Dusen im allgemeinen nicht
       erst zu bitten. Er fing gleich an und nahm sich als erstes
       das Abteil des verschwundenen Grafen vor.
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REGIE: In Parasows Abteil.
vanD. (grübelnd): Merkwürdig... sehr, sehr merkwürdig...
Stoj.: Wie meinen Herr Professor?
vanD.: Da, auf der Kofferablage...
Stoj.: Verzeihung, Herr Professor, aber ich sehe nichts.
Hatch: Ich auch nicht.
vanD.: Das ist ja gerade das Merkwürdige. Kein Gepäck - auf der Ab-
       lage und im ganzen Abteil kein einziger Koffer, nicht ein-
       mal eine Reisetasche...
Stoj.: Jetzt wo Sie's sagen, Herr Professor - wirklich merkwürdig.
       Als wir gestern früh in Belgrad den Express bestiegen, hatte
       Graf Parasow nämlich zwei große Koffer bei sich.
vanD.: Und jetzt sind sie verschwunden, wie ihr Besitzer.
Stoj.: Dabei fällt mir ein, Herr Professor... es handelt sich al-
       lerdings nur um ein Gerücht aus Hofkreisen...
vanD.: Reden Sie, mein Guter.
Stoj.: Nun... man erzählt sich, daß Graf Parasow zum letzten Mal



                        - 11 -

Stoj.: mit Seiner Königlichen Hoheit ins Ausland gefahren ist.
       Angeblich interessiert sich die Polizei für ihn... Schmug-
       gel... sagt man.
Hatch: Ein nettes Land. Die Züge bleiben stehn, die Brücken gehn
       kaputt, und die Kammerherrn schmuggeln!
Stoj.: Bitte, meine Herren, das ist nur ein Gerücht... Auf seinen
       Reisen mit Königlicher Hoheit soll Graf Parasow Falschgeld
       ins Land geschmuggelt haben...
vanD.: Falschgeld - so so...
Hatch: Ein Motiv, Professor?
vanD.: Vielleicht, mein lieber Hatch, vielleicht...
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Hatch: Der Professor grübelte ein bißchen vor sich hin. Dann ließ
       er sich den Schaffner kommen und nahm ihn ins Verhör.
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REGIE: Im Abteil.
Scha.: Im Zug ist Graf Parasow auf gar keinen Fall, Herr Profes-
       sor. Wir haben alles durchsucht.
vanD.: Auch die Schlafwagen-Abteile?
Scha.: Jawohl, Herr Professor. Als die Herrschaften beim Früh-
       stück waren.
vanD.: Wann haben Sie den Grafen zum letzten Mal gesehen?
Scha.: Heute nacht, an der Grenze. Bei der Kontrolle.
vanD.: Also um Mitternacht. Wo?
Scha.: In seinem Abteil.
vanD.: Hm. - Apropos Grenzkontrolle. Haben die Zöllner auch in
       die Damen-Toiletten gesehen?
Scha.: Jawohl, Herr Professor. Das tun sie immer.
vanD.: Und?
Scha.: Nichts. Keine Leiche, alles in Ordnung.
vanD.: Und heute morgen um sieben Uhr hing sie da... Wird niemand
       im Zug vermißt?
Scha.: Nein, Herr Professor. Alle Passagiere sind da - außer Graf
       Parasow natürlich.
vanD.: Natürlich. Wo waren Sie nach Mitternacht?
Scha.: Ich, Herr Professor? Auf meinem Posten.
vanD.: Das heißt?
Scha.: Auf dem Gang zwischen dem ersten und zweiten Schlafwa-
       gen.



                        - 12 -

vanD.: Wach und munter?
Scha.: Was denken Sie von mir, Herr Professor? Selbstverständ-
       lich.
vanD.: Haben Sie irgendetwas Auffälliges bemerkt? Ist jemand an
       Ihnen vorbeigegangen?
Scha.: Nein, Herr Professor. Nichts und niemand. Alles ruhig.
vanD.: Aha. Diese Ihre Aussage, mein Bester, engt unsere Suche
       nach dem Tatort und dem Täter, beziehungsweise den Tätern,
       erheblich ein - das ist Ihnen doch klar?
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Hatch: Damit es auch Ihnen klar wird, meine Damen und Herren,
       will ich Ihnen kurz die Wagenfolge erläutern: Vorn war na-
       türlich die Lokomotive mit dem Kohlentender. Dann kam der
       Speisewagen und dann der Gepäckwagen, in seinem vorderen
       Drittel die kleine Küche, das Reich des Monsieur Papillon.
       Auf den Gepäckwagen folgte der erste Schlafwagen, mit
       acht Abteilen. Nummer eins stand leer, Nummer zwei bewohn-
       ten die Hinkeldeys, in drei hauste Miss Deer, in vier Pro-
       fessor van Dusen, in fünf meine Wenigkeit; sechs, sieben
       und acht gehörten dem Kronprinzen nebst Gefolge. Die Da-
       men-Toilette lag am vorderen Ende, zum Gepäckwagen hin,
       die für Herren am hinteren. So, jetzt wissen Sie Bescheid.
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REGIE: Im Abteil.
vanD.: Kommen wir vom Tatort zur möglichen Tatzeit. Wann und wo
       haben wir heute nacht, nach dem Grenzübergang, gehalten?
Scha.: Überhaupt nicht, Herr Professor.
Hatch: Na, und was ist das hier? Wir fahren doch nicht, oder?
Scha.: Nein, mein Herr, aber das ist ein außerplanmäßiger Halt.
vanD.: Und seit wann halten wir hier außerplanmäßig?
Scha.: Seit drei Uhr zehn, Herr Professor. Die Soldaten sind dann
       sofort aus dem Viehwagen,der hinter der Grenze angehängt
       wurde, und haben einen Kordon um den Express gezogen.
vanD.: Parasow muß also vorher verschwunden sein, während der
       Fahrt. Hm...
Hatch: Vielleicht ist er rausgefallen, Professor.
vanD.: In Begleitung seiner beiden Koffer? Unwahrscheinlich. Ande-
       rerseits... (geht zur Tür, macht auf, ruft) Stojan!
Stoj. (kommt): Herr Professor befehlen?



                        - 13 -

vanD.: Eine Patrouille soll an der Strecke zurückgehen - wenn
       möglich, bis zur Grenze. Die Leute sollen die Augen auf-
       halten und auf alles Ungewöhnliche achten.
Hatch: Einen leibhaftigen Grafen werden sie ja wohl kaum überse-
       hen.
vanD.: An den Grafen Parasow, mein lieber Hatch, dachte ich ei-
       gentlich weniger.
-----------------------------------------------------------------
Hatch: So verging der Vormittag, bis wir uns zum Lunch in den
       Speisewagen begaben. Bekanntlich hält der Professor von
       regelmäßigen Mahlzeiten wenig, im Gegensatz zu mir, und
       ich bin davon überzeugt, daß er nur deshalb mit mir zum
       Essen ging, weil ihm nichts Kriminologisches mehr einfiel,
       womit er sich beschäftigen konnte.
-----------------------------------------------------------------
REGIE: Im Speisewagen. Man ißt und trinkt. Van Dusen und Hatch
       setzen sich.
Hink.: Mahlzeit, meine Herren, Mahlzeit. Wie sagt Homer, der Gött-
       liche? Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle.
Hatch: Treffend bemerkt. Was gibt's denn heute? Miss Deer, hätten
       Sie wohl die Güte, mir die Speisekarte zu reichen?
Deer:  Mit Vergnügen, Mr. Hatch. Wissen Sie was Neues?
Hatch: Was hätten Sie denn gern?
Deer:  Wann wir weiterfahren, zum Beispiel?
Hink.: Sehr richtig. Es drängt mich, zu verlassen diese Ultima Thu-
       le, dahin ein widrig Geschick mich verschlagen, und zu
       schauen mein Ziel: der Troier breitstraßige Feste in Skamán-
       ders blühender Aue.
FrauH: Wie schön du das gesagt hast, Hugo.
Deer:  Und was ist mit dem interessanten toten Mann?
FrauH: Iih - bitte nicht, Miss Deer!
Pap. (kommt): Mesdames, Messieurs - was darf isch bringen?
Hatch (liest Menü): Consommé double, ungarisches Goulasch, Tourne-
       dos à la Rothschild, Rôti de Mouton... ziemlich mächtig,
       Ihr Menü, Monsieur Papillon.
Pap.:  Que voulez-vous, Monsieur? La situation...
Hatch: Eben drum. Ist ein so üppiges Menü nicht ein bißchen leicht-
       sinnig, in unsrer Situation?




                       - 14 -

Pap.:  Pas du tout, Monsieur. Wenn Sie nischt essen la viande,
       die Fleisch, sie verderben, sie werden schlescht.
Deer:  Das müssen wir verhindern, Monsieur Papillon. Also brin-
       gen Sie mir... na, sagen wir, von jedem etwas.
Pap.:  Avec plaisir, Mademoiselle.
----------------------------------------------------------------
Hatch: Noch am Tisch fragte der Professor Miss Deer und die Hin-
       keldeys, ob sie in der Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt
       hätten. Leider Fehlanzeige. Nach dem Essen ließ er sich
       beim Kronprinzen melden, um ihm und Stojan dieselbe Frage
       zu stellen. Hoheit stopfte sich schon wieder, diesmal mit
       Schokoladenpudding.
----------------------------------------------------------------
REGIE: Im Abteil des Kronprinzen.
Boris (mit vollem Mund): Sag's ihm, Stojan.
Stoj.: Sehr wohl, Königliche Hoheit. Von Mitternacht bis zum
       Halt kurz nach drei Uhr befand sich seine Königliche Ho-
       heit nicht in seinem Bett, auch nicht in seinem Abteil,
       nicht einmal in diesem Wagen. Seine Königliche Hoheit ge-
       ruhte, sich auf der Lokomotive aufzuhalten. Seine Königli-
       che Hoheit ist äußerst interessiert an moderner Technik,
       an Maschinen...
Boris: Tut, tut!
Hatch: Man merkt's.
Boris: Ich bin selber gefahren. Ganz alleine!
Hatch: Ist das wahr?
Stoj.: Auf diese Weise studiert Seine Königliche Hoheit Faktoren
       und Funktionen des Eisenbahnverkehrs.
Hatch: So kann man's auch sagen.
vanD.: Und Sie, Stojan? Wo waren Sie in der fraglichen Zeit?
Stoj.: Selbstverständlich bei Seiner Königlichen Hoheit, im Füh-
       rerstand der Lokomotive.
-----------------------------------------------------------------
Hatch: Also damit kamen wir auch nicht viel weiter - das meinte
       jedenfalls Professor van Dusen, als er mit mir auf dem
       Gang herumwanderte und laut vor sich hindachte.
-----------------------------------------------------------------
REGIE: Im Gang. Van Dusen und Hatch gehen auf und ab.




                        - 15 -

vanD.: Rekapitulieren wir, mein lieber Hatch. Zwei Probleme gilt
       es zu lösen: Wo befindet sich Graf Parasow - und wer hat
       einen bereits toten Mann im Waschraum aufgehängt? Beides
       geschah in einem verhältnismäßig kurzen Zeitabschnitt -
       zwischen Mitternacht und etwa drei Uhr morgens - und auf
       verhältnismäßig engem Raum - zwischen der Lokomotive und
       dem zweiten Schlafwagen. Beides, wohlgemerkt. Insofern -
Hatch: Ah - Sie glauben, daß es da einen Zusammenhang gibt?
vanD.: Es handelt sich zwar, wie gesagt, um zwei Probleme, mein
       lieber Hatch, aber mit an Sicherheit grenzender Wahr-
       scheinlichkeit um nur einen einzigen Fall.
Hatch: Soll ja alles sein, Professor - aber was ist denn nun ei-
       gentlich passiert?
vanD.: Das, mein lieber Hatch, liegt vorerst im Schoße der Göt-
       ter, wie Professor Hinkeldey sagen würde. Gewiß, es gibt
       eine Fülle aufschlußreicher Hinweise, aber, zu meinem Be-
       dauern, noch kein vollständiges Bild... Was tun? Mein lie-
       ber Hatch, was tun?
Hatch: Sprach Zeus. Und ein anderer schlauer Mensch hat mal ge-
       sagt: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, tue einfach
       irgendwas.
vanD.: Warum nicht? Kommen Sie.
Hatch: Wohin, Professor?
vanD. (etwas entfernt): Zur Lokomotive, um die Aussage des Kron-
       prinzen zu überprüfen. Rufen Sie den Schaffner, Hatch -
       er soll uns begleiten.
----------------------------------------------------------------
Hatch: Offenbar suchte van Dusen verzweifelt nach einer Bresche,
       um den Fall sozusagen von innen aufzurollen. Aber auch
       beim Lokomotivführer hatte er kein Glück: Hoheit Boris und
       Stojan hatten die Wahrheit gesagt. Schlechtgelaunt und
       stumm ging er zurück - bis er plötzlich im Gang des Ge-
       päckwagens stehenblieb, direkt an der Tür.
------------------------------------------------------------------
REGIE: Im Gang. Van Dusen, Hatch, Schaffner bleiben stehen.
vanD.: Hinter der Tür ist das Gepäckabteil?
Scha.: Jawohl, Herr Professor.
vanD.: Hm. Da ich mich nun schon einmal hier befinde, sollte ich




                         - 16 -

vanD.: die Gelegenheit nutzen, das Abteil in Augenschein zu neh-
       men. Schließen Sie auf.
Scha.: Das ist nicht nötig, Herr Professor. Heute morgen habe ich
       hier alles auf den Kopf gestellt.
vanD.: Daran zweifle ich nicht, mein Freund - und dennoch...
Hatch: Kontrolle ist besser.
vanD.: Schließen Sie auf.
Scha.: Wie Sie wünschen, Herr Professor. (schließt, schiebt Tür
       zurück) Bitte sehr.
REGIE: Die drei betreten Gepäckabteil.
Scha.: Sehen Sie selbst, Herr Professor - wo sollte sich hier je-
       mand verstecken?
vanD.: So? Und was ist das da?
Scha.: Bitte was, Herr Professor? - Ach, Sie meinen den Sarg in
       der Ecke.
vanD.: Ja, mein Bester, ich meine den Sarg. Leer?
Scha.: Leider nein, Herr Professor. Und deshalb - unter uns, Herr
       Professor - deshalb passiert heute auch so viel. Ein Toter
       im Zug bringt Unglück.
vanD.: Warum haben Sie mich nicht bereits heute morgen davon in-
       formiert, Sie... Sie Unglücksmensch?
Scha.: Ja, ist es denn wichtig, Herr Professor?
vanD.: Wichtig? - (wieder ruhig) Von überragender Wichtigkeit,
       mein Guter. Ein Sarg mit einer Leiche - das erklärt viel,
       wenn nicht alles. Erzählen Sie!
Scha. (eifrig): Jawohl, Herr Professor! - Äh... was denn, Herr
       Professor?
vanD.: Alles, was Sie über den Sarg wissen, natürlich.
-----------------------------------------------------------------
Hatch: Leider gab's da nicht viel zu erzählen. Der Sarg war ord-
       nungsgemäß, mit allen nötigen Begleitpapieren, in Belgrad
       aufgegeben worden, für Sofia. An der serbisch-bulgarischen
       Grenze hatten ihn die Zöllner geöffnet -
------------------------------------------------------------------
REGIE: Wieder Gepäckabteil.
Scha.: Wissen Sie, die Schmuggler kommen ja manchmal auf die ver-
       rücktesten Ideen.
vanD.: Und?



                       - 17 -

Scha.: Alles in Ordnung. Nur eine Leiche drin, wie es sich ge-
       hört.
vanD.: Sie wissen natürlich, wo sich diese Leiche jetzt befindet?
Scha.: Verzeihung, Herr Professor, aber ich verstehe nicht... Wo
       soll sie denn sein? Nicht im Sarg?
vanD.: Natürlich nicht.
Hatch: So natürlich finde ich das gar nicht, Professor. Wenn sie
       nicht in ihrem Sarg ist, wo steckt sie dann?
vanD.: Aber Hatch - in Abteil Eins.
Hatch: Abteil Eins?... Aha! Sie meinen, jemand hat heute nacht
       den Toten aus dem Sarg geholt und in die Damen-Toilette
       gehängt?
vanD.: Ohne jeden Zweifel.
Hatch: Aber wer? Und warum?
vanD.: Das ist doch im Moment völlig unwichtig.
Scha.: Dann ist der Sarg jetzt also leer, Herr Professor?
vanD.: Oh nein, mein Bester.
Hatch: Nicht? Aber -
vanD.: Er enthält, wie ich vermute, noch immer eine Leiche - eine
       andere.
Hatch: Graf Parasow!
vanD.: Höchstwahrscheinlich. Öffnen Sie den Sarg!
Scha.: Wenn sie darauf bestehen, Herr Professor...
REGIE: Sarg wird geöffnet - Deckel knarrt. Kleine Pause.
Hatch: Nanu! Sieht ja merkwürdig aus, Ihr Graf Parasow.
Scha.: Geld! Der Sarg ist voller Geld! (wühlt) Hier - Lewa - Fran-
       ken - Lei -
Hatch: Pfunde - Dollars - (wühlt auch) und keine Leiche.
vanD.: Tja... allerdings... in diesem Falle... Zeigen Sie doch
       mal. (nimmt Geldscheine, prüft sie) Aha - Falschgeld.
Hatch: Falschgeld?
vanD.: Eindeutig. Ein Sarg voller falscher Banknoten - dieser Tat-
       bestand verlangt zwingend ein Überdenken der Angelegen-
       heit. Schaffner!
Scha.: Ja, Herr Professor?
vanD.: Schließen Sie den Sarg wieder - und lassen Sie eine Wache
       ins Gepäckabteil legen.
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                       - 18 -

Hatch: Zum Überdenken braucht Professor van Dusen bekanntlich
       Publikum -  und das Publikum besteht in der Regel aus Ihrem
       ergebenen Diener Hutchinson Hatch, Reporter des Weltblattes
       "Daily New Yorker". So war's auch diesmal: Ich hörte zu
       und van Dusen dozierte.
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REGIE: In van Dusens Abteil.
vanD.: An und für sich genommen, mein lieber Hatch, das heißt,
       reduziert auf die baren Grundlinien, auf das logische Ske-
       lett gewissermaßen, liegt der Fall uns klar vor Augen.
Hatch: Hört, hört.
vanD.: Es handelt sich, ganz ohne Frage, um eine Schmuggel-Affäre.
       Ein Sarg, enthaltend eine authentische Leiche, wird mit-
       tels dieses Zuges von Serbien nach Bulgarien transportiert.
       Nach Grenzübertritt entnimmt ein Unbekannter die Lei-
       che, hängt sie in den Damen-Waschraum -
Hatch: Warum gerade da?
vanD.: Weil dies für ihn die einfachste und, vor allem, nächstlie-
       gende Möglichkeit war, sich des problematischen Objekts zu
       entledigen. Sodann füllte er den Sarg mit Falschgeld ...
Hatch: Und?
vanD.: Und verschwand.
Hatch: Ah so. Sie halten also den Grafen Parasow für unseren
       Falschgeld-Schmuggler, Professor?
vanD.: Wen sonst? Denken Sie an die Gerüchte, von denen uns Sto-
       jan berichtet hat, denken Sie an die fehlenden Gepäck-
       stücke -
REGIE: Es klopft an der Tür.
vanD.: Herein.
Stoj. (öffnet Tür): Verzeihen Sie die Störung, Herr Professor...
vanD.: Ah, Stojan. Treten Sie näher. Was gibt's?
Stoj. (tritt ein): Melde gehorsamst: Die Patrouille, die Sie an
       der Strecke zurückgeschickt haben, ist wieder da.
vanD.: Schön. Was gefunden?
Stoj.: Jawohl, Herr Professor.
Hatch: Den Grafen?
Stoj.: Bedauerlicherweise nein. Aber seine Koffer. Zerkratzt und
       beschädigt.



                        - 19 -

vanD.: Aus dem fahrenden Express geworfen. Leer, nehme ich an?
Stoj.: Jawohl, Herr Professor.
vanD.: Und wo?
Stoj.: Etwas zwanzig Kilometer zurück, kurz vor dem Dorf Dragoman.
       Der Bauernaufstand ist übrigens niedergeschlagen - die Rä-
       delsführer hängen an den Telegraphen-Masten.
Hatch: Ein nettes Land.
Stoj.: Neben den Koffern hat die Patrouille dies hier gefunden,
       Herr Professor.
vanD. (erstaunt): Eine Hammelkeule?
Hatch (schnüffelt): Schon leicht angegangen.
vanD.: Merkwürdig... eine neue Unbekannte in der Gleichung...
       dennoch, die Umrisse zeichnen sich immer schärfer ab...
Hatch: Acht Uhr, Professor, Zeit zum Abendessen. Kommen Sie, den-
       ken Sie bei Tisch weiter.
vanD. (entfernt sich, grübelnd): Wo befindet sich Graf Parasow?
       Er muß noch im Zug sein...
-----------------------------------------------------------------
Hatch: Im Speisewagen war der Professor selbst für seine Verhält-
       nisse ungewöhnlich geistesabwesend. Anscheinend machte ihm
       der Fall schwer zu schaffen. Er bestellte mechanisch, und
       als Papillon servierte, fing er ebenso meschanisch an zu
       essen.
----------------------------------------------------------------
REGIE: Im Speisewagen. Man ißt.
vanD.: Danke, danke. (beginnt zu essen)
Hatch (ißt): Ausgezeichnet, mein lieber Monsieur Papillon. Es
       ist zwar dasselbe Goulasch wie heute mittag, aber wenn es
       so gut ist wie dieses hier... Ich muß Ihnen sagen, ich
       habe selten besseres gegessen.
Pap.:  Merci, Monsieur. (geht)
Hatch (beim Essen): Machen Sie nicht so ein trübes Gesicht, Pro-
       fessor. Und grämen Sie sich nicht; Sie werden den Grafen
       schon finden. Sie wissen doch: nur zwei und zwei zusammen-
       zählen und dann - (bricht ab) Professor! Was ist denn?
vanD. (leise): Um Gotteswillen!
-----------------------------------------------------------------
Hatch: Van Dusen war plötzlich bleich geworden, noch bleicher,
       als er ohnehin schon war, und stierte fassungslos auf



                        - 20 -

Hatch: seine Gabel. Und da, fast im gleichen Moment, ging ein
       Ruck durch den Speisewagen - der Zug fuhr an, wir waren
       wieder in Bewegung.
----------------------------------------------------------------
REGIE: Im Speisewagen. Zug fährt an. Aufregung.
Hatch: Hallo! Wir fahren!
vanD. (leise): Ungeheuerlich!
Hatch: Was haben Sie, Professor?
Scha. (kommt): Meine Damen und Herren! Ich habe die große Freude,
       Ihnen mitteilen zu können, daß die Reparaturarbeiten an
       der vor uns liegenden Brücke abgeschlossen sind. Wir set-
       zen unsere Fahrt fort und werden in ungefähr einer Stunde
       Sofia erreichen.
Deer:  Hip, hip, hurra!
Hink.: Bravo! Wie sagt Vergil? Mens ágitat mólem.
FrauH: Oh Hugo! Endlich!
vanD.: Unfaßbar! Sehen Sie, Hatch - sehen Sie doch nur!
Hatch: Na was denn! Ein Knochen, ein klitzekleiner Knochen im
       Goulasch - das kann dem besten Koch mal passieren.
vanD. (ominös): Dieser Knochen, mein lieber Hatch, stammt weder
       vom Schwein noch vom Rind.
Hatch: Pferd, was? Na ja, wir sind auf dem Balkan - da darf man
       nicht kiesätig sein.
vanD.: Nein, Hatch - Pferd auch nicht. (steht auf) Hören Sie um
       Gotteswillen auf zu essen und kommen Sie mit.
Hatch: Was ist denn bloß los, Professor? Wo gehen wir hin?
vanD. (etwas entfernt): In die Küche.
-----------------------------------------------------------------
Hatch: Wenn es denn sein mußte - also auf in die Küche. Monsieur
       Papillon, der uns schon in der Tür empfing, schien über
       unsern Besuch gar nicht erfreut zu sein.
-----------------------------------------------------------------
REGIE: Vor der Küche.
Pap.:  Pardon, Messieurs - défense d'entree, Eintritt verboten!
       Sortez, s'il vous plâit! Gehen Sie, gehen Sie!
vanD.: Ich darf Sie daran erinnern, Monsieur Papillon, daß mir
       von Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen volle Auto-
       rität über den Express und alle seine Insassen verliehen
       wurde. Geben Sie also den Weg frei. Folgen Sie mir, Hatch.


                        - 21 -

Hatch: Vous permettez, Monsieur Papillon?
REGIE: Die drei betreten die Küche.
vanD.: Hier ist also Ihr Reich, Monsieur Papillon.
Hatch: Bißchen eng, aber ganz gemütlich.
vanD.: Und wie ich sehe, schlafen Sie hier auch?
Pap.:  Naturellement, Monsieur. Der Koch, er ge'ört in Küsche.
vanD.: Soso. - Ah, die Eisbox. Machen Sie auf, Monsieur Papillon.
Pap.:  Jamais, Monsieur! Isch denke nischt daran!
vanD.: Ihr Widerstand ist sinnlos - aber wenn Sie nicht wollen...
       Wären Sie wohl so freundlich, mein lieber Hatch?
Hatch: Mit Vergnügen, Herr Professor.
vanD.: Vergnügen? Das glaube ich kaum, wenn Sie erst einmal fest-
       gestellt haben, was sich in der Eisbox befindet. Oder wer
       sich darin befindet, besser gesagt.
Hatch: Versteh kein Wort.
vanD.: Machen Sie auf, Hatch.
Pap.:  Nur über meine Leische, Messieurs!
vanD.: Nicht Ihre Leiche, Papillon.
Hatch: Rutschen Sie mal, Sportsfreund! (schiebt Papillon beiseite,
       öffnet Eisbox, stößt Laut des Entsetzens und Ekels aus)
vanD.: Das habe ich erwartet. Damit, mein lieber Hatch, wäre das
       Geheimnis um den verschwundenen Grafen Parasow aufgedeckt.
-----------------------------------------------------------------
Hatch: Und während wir, gebannt und entsetzt, in die Eisbox
       starrten, machte sich Monsieur Papillon leise durchs Kü-
       chenfenster aus dem Staube.
----------------------------------------------------------------
REGIE: In der Küche. Papillon durchs Fenster.
vanD. (fährt hoch): Halten Sie ihn fest, Hatch!
Hatch (rennt zum Fenster): Zu spät, Professor! (steckt Kopf aus
       Fenster) Er ist schon auf dem Dach!
REGIE: Schritte auf dem Wagendach.
vanD.: Worauf warten Sie, Hatch? Ihm nach!
Hatch: Bei voller Fahrt aufs Dach? Besten Dank, Professor - nach
       Ihnen.
vanD.: Stellen Sie sich nicht an. Der Mann ist der scheußlichste
       Verbrecher, mit dem ich es je zu tun hatte - er darf nicht
       entkommen!


                       - 22 -

Hatch: Wenn Sie darauf bestehen, Professor...
REGIE: Zug legt sich in Kurve - Quietschen. Draußen ein langge-
       zogener Schrei, der verschwindet.
Hatch: Er... er ist abgestürzt, Professor! In die Schlucht!
vanD. (kommt ans Fenster): In die steile Schlucht des Flusses
       Isker. Das hat er nicht überlebt... Auch gut. Ein glatter
       Schlußstrich unter einen höchst unerfreulichen Fall.
Hatch: Uff! Was ist denn eigentlich passiert, Professor?
vanD.: Aber Hatch! Papillon hat versucht zu fliehen und ist dabei
       vom Dach in die Schlucht gestürzt.
Hatch: Das weiß ich selbst, Professor. Ich meine den ganzen Fall:
       Falschgeld, die Leiche im Klo, Papillon und - igtitt! -
       Parasow.
vanD.: Wie das alles zusammenhängt, sollten Sie jetzt aber selbst
       wissen, mein lieber Hatch. - Nein? Dann muß ich wohl wie-
       der einmal erklären...
Hatch: Das tun Sie doch gern, Professor.
vanD.: Fangen wir ausnahmsweise mit dem Ende an. Als Sie den In-
       halt der Eisbox sahen, ist Ihnen ja wohl klar geworden,
       was für ein Knöchelchen in meinem Goulasch herumschwamm.
Hatch: Äääh - hören Sie bloß auf Professor. Ich bin wirklich
       nicht zartbesaitet, aber das geht sogar mir über die Hut-
       schnur. Wenn ich dran denke, was ich da seelenruhig geges-
       sen habe, beim Lunch und beim Abendessen... igitt! Ich
       glaube, mir wird schlecht.
vanD.: Nehmen Sie sich zusammen, Hatch. - Um auf besagtes Knöchel-
       chen zurückzukommen: Als ich es entdeckte, fiel es mir wie
       Schuppen von den Augen. Alle Probleme verschwanden, die
       Gleichung ging auf, der Fall war gelöst. Aber ich sehe
       schon: Ihnen, mein lieber Hatch, ist wie üblich noch gar
       nichts klar, oder?
Hatch: Als ob Sie das nicht ganz genau wüßten, Professor.
vanD.: Also hören Sie zu...
----------------------------------------------------------------
Hatch: Und dann hielt der Herr Professor Vortrag, in seiner be-
       kannten, unnachahmlichen Art. Er begann mit dem Grafen Pa-
       rasow: Wie dieser seine Einkünfte als Kammerherr des Kron-
       prinzen durch den Schmuggel mit Falschgeld zu vermehren
       pflegte, bis ihm zu Ohren kam, daß die Polizei von Sofia
       ihm auf die Schliche gekommen war und plante, ihn nebst

                        - 23 -

Hatch: Gepäck nach der nächsten, das heißt, dieser Reise gründ-
       lich unter die Lupe zu nehmen. Aber auch der Graf machte
       einen Plan: In Belgrad, wo für Geld alles zu haben ist,
       besorgte er sich einen Sarg mit Leiche und ließ beides
       durch einen Komplizen in unseren Express schaffen - Be-
       stimmungsort Sofia. Wie immer hatte er das Falschgeld bei
       sich, in seinen Koffern, die beim Grenzübergang wie immer
       nicht kontrolliert wurden. Nach Mitternacht entwickelte
       der Graf eine hektische Aktivität: Mit einem Komplizen im
       Zug nahm der die Leiche aus dem Sarg und stopfte die fal-
       schen Scheine hinein. Der Tote kam in die Eisbox in der
       Küche, um bei nächster guter Gelegenheit, bei der Fahrt
       über die Isker-Schlucht, aus dem Fenster gestürzt zu werden
       und zwischen den Felsen für immer zu verschwinden. In Sofia
       hätte der Graf dann Mittel und Wege gefunden, sich den In-
       halt des Sargs unter den Nagel zu reißen. Aber dann kam
       alles anders - zwei unvorhergesehene Ereignisse brachten
       den schönen Plan zum Scheitern.
----------------------------------------------------------------
REGIE: Im Speisewagen. Van Dusen vor Hatch, Boris, Stojan, Miss
       Deer und den Hinkeldeys.
vanD.: Erstens. Der Komplize im Zug - es handelte sich natürlich
       um unseren Meisterkoch, Monsieur Papillon - beschloß, sich
       in den Besitz der Ware zu setzen.
Deer:  Warum?
vanD.: Was weiß ich? Vielleicht wollte er ein Feinschmecker-Lokal
       in Paris eröffnen. Jedenfalls tötete er den Grafen -
Deer:  Auf welche Weise?
vanD.: Soweit an den erhaltenen Überresten zu erkennen, erstach
       er ihn mit einem Küchenmesser. Die leeren Koffer warf er,
       mit der Hammelkeule aus der Eisbox, an den Streckenrand,
       weil er nicht riskieren wollte, sie ins Abteil ihres Be-
       sitzers zu bringen und dabei womöglich gesehen zu werden.
       Nun erhob sich für ihn ein Problem: Er hatte zwei Leichen,
       aber in der Eisbox gab es nur Platz für eine. Was war zu
       tun? Der Graf war im Zug bekannt; er mußte spurlos ver-
       schwinden und kam deshalb vorerst in die Eisbox. Den unbe-
       kannten Toten aus Belgrad hängte Papillon, weil er ihn ja
       irgendwo lassen mußte, in den Waschraum für Damen.



                        - 24 -

Deer:  Warum nicht in die Herren-Toilette?
vanD.: Weil er nicht mit einer Leiche auf dem Rücken durch den
       ganzen Schlafwagen laufen wollte. Gesagt, getan. Dann war-
       tete Papillon darauf, daß der Zug die unzugängliche
       Schlucht des Isker passierte, um sich dort auch des Gra-
       fen zu entledigen. Doch dazu kam es nicht. Das zweite un-
       vorhergesehene Ereignis trat ein - um drei Uhr zehn blieb
       der Express vor der Brücke stehen, für eine noch nicht ab-
       sehbare Zeit. Zunächst machte Papillon sich noch keine
       Sorgen: Das Falschgeld lag sicher im Sarg, der Graf in der
       Eisbox; der unbekannte Tote konnte, wenn er entdeckt wur-
       de, mit ihm nicht in Verbindung gebracht werden.
Hatch: Großartig rekonstruiert, Professor.
Hink.: Félix, quí potuít rerúm cognóscere cáusas. Vergil, Geórgi-
       ca.
vanD.: Danke. Séd fugit, íntereá, fugit írreparábile témpus.
       Ebenfalls Vergil.
Hink.: Die lateinische Sprache beherrschen Sie auch, Herr Kollege?
vanD.: Ein wenig, Herr Kollege. Wie gesagt: Die Zeit drängt. Ich
       fahre fort. Mit Anbruch des Tages begannen Papillons Prob-
       leme. Die Sonne ging auf, es wurde warm, sehr warm und -
       das Eis ging zur Neige. Es war durchaus möglich, daß der
       Express, der hermetisch bewachte Express, noch tagelang
       vor der beschädigten Brücke warten mußte. Wie konnte er
       sich unter diesen Umständen des toten Grafen Parasow ent-
       ledigen? Monsieur Papillon verlor nicht die Nerven. Er
       sah sich in seiner Küche um, er dachte an die Möglichkei-
       ten seines Berufs und er begann, den Passagieren - uns,
       meine Herrschaften! - eine Fülle reichhaltiger Fleischge-
       richte zu servieren, was er bis zur endgültigen Beseiti-
       gung des... äh, corpus delicti fortzusetzen gedachte. Doch
       dies verhinderte eine winzige Kleinigkeit - ein Knöchel-
       chen, welches ich, Professor Doktor Doktor Doktor Augustus
       van Dusen, dank meiner biologischen, zoologischen und ana-
       tomischen Kenntnisse sogleich zu identifizieren vermochte.
       Ich stellte den Mörder - er floh, und es ereilte ihn die
       gerechte Strafe. Dixi.
Deer (nach kurzer Pause): Sagen Sie, was Sie wollen, Professor -
       geschmeckt hat er gar nicht schlecht...



                        - 25 -

FrauH: Oh Hugo, wie entsetzlich!
Hink.: Siehe, der Unhold streckte nach meinen Gefährten die Hände,
       Packte zweie zugleich und schlug sie, wie säugende Hunde,
       Wider den Boden. Ihr Hirn entfloß und netzte die Erde.
       Glied für Glied zerhackte er sie zum fertigen Nachtmahl,
       Fraß sie wie ein Löwe der wilden Berge und ließ nicht
       Eingeweide zurück noch Fleisch noch markige Knochen!
       Homer, Odyssee, Neunter Gesang.
Boris: Sag ihm meine Meinung, Stojan.
Stoj.: Seine Königliche Hoheit drückt Ihnen, Herr Professor van
       Dusen, seine tiefe Genugtuung über die gelungene Aufklä-
       rung des kriminalistischen Geschehens im Orient-Express
       aus. Seine Königliche Hoheit widerruft hiermit Ihre Ernen-
       nung zum provisorischen Polizeichef und verleiht Ihnen
       stattdessen den St.Alexander-Orden am Bande.
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Hatch: Na bitte. Vierundzwanzig Stunden später - der Professor
       hatte eben im Palast seinen Orden abgeholt - saßen wir bei-
       de im feinsten Restaurant zu Sofia.
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REGIE: Im Restaurant. Gedämpfte Atmosphäre.
Ober:  Schon gewählt, die Herren? Wenn ich mir einen Vorschlag
       erlauben darf: Rahmgoulasch ist heute besonders delikat -
       eine Spezialität unseres Hauses - feinstes, zartestes
       Fleisch -
Hatch: Brr! Danke! Hören Sie auf der Stelle auf!
Ober (steif): Mein Herr?
vanD.: Mir bringen Sie eine Salatplatte.
Ober:  Sehr wohl, der Herr.
Hatch: Für mich einen doppelten Cognac und auch eine Salatplatte.
       Was das Essen betrifft, Professor - von jetzt ab nur noch
       vegetarisch!



                         ENDE




© 2004 Michael Koser