Die Jagd nach dem Goldservice

von Jacques Futrelle

 

Der Einbrecher und das Mädchen

 

I

KARDINAL RICHELIEU und der Mikado traten auf den schmalen Balkon hinaus, mit Aussicht auf den Zugang zu Seven Oaks, zündeten ihre Zigaretten an und schauten müßig auf die Schar, die die breite Marmortreppe heraufströmte. Hier gab es eine übergewichtige Kaiserinwitwe von China, dort einen Indianer in voller Kriegstracht und -bemalung, und hinter ihm trippelten zwei kicherende Geishas. Als nächstes, in prächtiger Uniform, kam der Zar von Russland. Der Mikado lächelte.

»Ein alter Feind von mir«, bemerkte er zum Kardinal.

Einer Watteau-Schäferin wurde von Christoph Kolumbus aus dem Auto geholfen, dann kamen sie Arm in Arm den Weg herauf, während eine Pierrette an ihrer Seite lief und ihnen ins Gesicht lachte. D'Artagnan, Athos, Aramis und Porthos stolzierten daher, mit frech klirrenden Degen.

»Ah!«, rief der Kardinal. »Diese vier Herren kenne ich gut.«

»Ich sah noch nie in meinem Leben einen so erschrockenen Mann«

Maria, Königin der Schotten, Pocahontas, der türkische Sultan und Mr. Micawber plauderten freundlich miteinander, alle in derselben Sprache. Dahinter kam eine Gestalt, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein Einbrecher, mit einer Blendlaterne in der einen Hand und einem Revolver in der anderen. Eine schwarze Maske reichte hinunter bis zu den Lippen, ein Schlapphut überschattete die Augen, und eine Tasche mit den Werkzeugen seiner Zunft hing von der Schulter.

»Donnerwetter!«, kommentierte der Kardinal. »Das ist originell.«

»Sieht aus wie echt«, fügte der Mikado hinzu.

Der Einbrecher trat für einen Moment zur Seite, ließ eine diamantenbeladene Königin Elisabeth passieren, und kam dann die Stufen herauf. Der Kardinal und der Mikado wechselten durch eine offene Balkontür in den Empfangsraum, um Zeuge seiner Ankunft zu werden.

»Ihre Königliche Hoheit, Königin Elisabeth!«, kündigte der Bedienstete mit steinerner Miene an.

Der Einbrecher reichte der livrierten Stimme eine Karte und bemerkte, mit offensichtlichem Vergnügen, einen flüchtigen Ausdruck der Verwunderung auf dem unbewegten Gesicht – vielleicht deshalb, weil die Karte mit der Hand angeboten worden war, die den Revolver hielt. Die Stimme las den Namen auf der Karte und atmete erleichtert auf.

»Bill, der Einbrecher!«, verkündete sie.

Es folgte ein erstauntes und interessiertes Gemurmel im Empfangsraum und im anschließenden Ballsaal. Für einen Moment befand sich der Einbrecher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als eine Welle des Gelächters die Runde machte. Die Ankunft eines hinter ihm hereinhüpfenden Clowns lenkte wieder von ihm ab, und der Einbrecher wurde von der Menge verschluckt.

Nur ein paar Minuten später hatten Kardinal Richelieu und der Mikado, auf der Suche nach Ablenkung, den Einbrecher gestellt und in das Raucherzimmer abgeschleppt. Dort gesellte sich der Zar von Russland dazu, der mit dem Mikado auf so vertrautem Fuß stand, dass er ihn Mike nannte, und sie rauchten zusammen.

»Wie sind Sie überhaupt auf ein solches Kostüm gekommen?«, fragte der Kardinal den Einbrecher.

Der Einbrecher lachte und entblößte zwei Reihen starker, weißer Zähne. Eine Furche in seinem kantigen, glattrasierten Kinn, das unterhalb der Maske sichtbar war, wurde dadurch ausgeprägter. Eine Frau hätte sie als Grübchen bezeichnet.

»Ich wollte etwas anderes«, erklärte er. »Ich konnte mir nichts Ausgefalleneres vorstellen als einen echten Einbrecher, und hier bin ich.«

»Ein Glück, dass die Polizei Sie nicht gesehen hat«, bemerkte der Zar.

Wieder lachte der Einbrecher. Er war offensichtlich ein gutmütiger Geselle, trotz seiner finsteren Kluft.

»Das war meine einzige Sorge – dass ich eingesackt werde, bevor ich ankomme«, antwortete er. »Eingesackt, muss ich wohl erklären, ist ein Fachbegriff meiner Profession und bedeutet erwischt, ergriffen, geschnappt. Sah auch ganz so aus, als ob meine Sorge eine gewisse Berechtigung hatte. Denn als ich mit dem Auto vorfuhr und ausstieg, fixierten mich zwei Männer in Zivilkleidung ziemlich scharf.«

Er legte die Blendlaterne und den Revolver beiseite, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. Der Mikado ergriff die Laterne und schaltete das Licht ein paar Mal ein und aus, während der Zar mit dem Revolver auf den Boden zielte.

»Lassen Sie das lieber«, sagte der Einbrecher beiläufig. »Er ist geladen.«

»Geladen?«, wiederholte der Zar. Er legte den Revolver behutsam zurück.

»Natürlich!«, lachte der Einbrecher spöttisch. »Ich bin echt, sehen Sie, daher ist mein Revolver auch geladen. Ich denke, ich sollte hier, wie wir sagen, ganz gut abräumen können, bevor es Zeit zum Abnehmen der Masken ist.«

»Wenn Sie so schlau sind, wie es Ihre Erscheinung vermuten lässt«, sagte der Kardinal bewundernd, »sehe ich keinen Grund, warum es sich nicht lohnen sollte. Sie könnten, zum Beispiel, die elisabethanischen Juwelen einsammeln. Ich habe bis jetzt vier Elisabeth's bemerkt, und es ist noch früh.«

»Oh, es wird sich lohnen«, versicherte ihm der Einbrecher leichthin. »Ich bin ziemlich gewitzt. Habe viel geübt, wissen Sie. Nur um Ihnen zu zeigen, dass ich ein Experte bin, hier ist eine Uhr und eine Anstecknadel, die ich meinem Freund, dem Zaren, vor fünf Minuten abgenommen habe.«

Er streckte eine behandschuhte Hand aus, in der die Uhr und die diamantene Anstecknadel lagen. Der Zar starrte einen Moment lang verblüfft darauf, klopfte sich in plötzlicher Bestürzung überall ab und lachte dann verlegen. Der Mikado fixierte seine Zigarette durch die schrägen Augen der Maske und lachte.

»In der Sprache der Diplomatie, Nick«, sagte er dem Zar, »bist du das, was man ›leicht‹ nennt. Ich dachte, ich hätte dich davon überzeugt.«

»Mein Gott, Sie sind wirklich gerissen«, bemerkte der Kardinal, »Ich hätte sie zusammen mit D'Artagnan und den anderen gebrauchen können.«

Der Einbrecher lachte wieder und stand gemächlich auf.

»Genug davon, das wird langweilig. Gehen wir hinaus und schauen uns um«, schlug er vor.

»Sagen Sie, nur unter uns, wer Sie sind«, drängte der Zar. »Ihre Stimme kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht einordnen.«

»Warten Sie, bis es Zeit zum Abnehmen der Masken ist«, erwiderte der Einbrecher gutmütig. »Dann werden Sie es wissen. Oder Sie versuchen, die Statue zu bestechen, die am Eingang meine Karte genommen hat. Die wird sich an mich erinneren. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Mann gesehen, der so erschrocken ist.«

Das Quartett schlenderte in den Ballsaal hinaus, gerade als das Signal zur Polonaise gegeben wurde. Ein paar Minuten später begann sich das kaleidoskopische Bild zu bewegen. Stuyvesant Randolph, der Gastgeber, als Sir Walter Raleigh, und seine treffliche Frau, als Kleopatra, schauten auf die Farbenflut und waren beeindruckt – sogar sehr.

Mr. Randolph lächelte hinter seiner Maske über die auffallenden Widersprüchlichkeiten, die überall zu finden waren: Königin Elisabeth und Mr. Micawber, Kardinal Richelieu und eine Pierrette, ein Clown, der vor Maria Antoinette seine Aufwartung machte. Der Zar von Russland widmete seine ganze Aufmerksamkeit einem leichtfüßigen Geisha-Mädchen, während der Mikado und die Narrheit, ein klingelndes Ding aus Glöckchen und kurzen Röcken, zusammen herumtollten. Die schrägste Figur der Polonaise war der Einbrecher. Seinen Revolver hatte er sorglos in die Tasche gesteckt, die Blendlaterne hing an seinem Gürtel. Er ließ einen Strom gefälliger Phrasen in das erhabene Ohr von Lady Macbeth fließen, während er zugleich der pompösen Schleppe der Kaiserinwitwe geschickt auswich. Die Polonaise kam zu ihrem Ende und die schwatzende Menge löste sich in kleinere Gruppen auf.

Der Kardinal Richelieu spazierte mit einer Pierrette am Arm daher.

»Laufen die Geschäfte gut?«, fragte er den Einbrecher.

»Gehen Sie davon aus«, war die Antwort.

Die Pierrette stellte sich auf die Zehenspitzen und zeigte dem Einbrecher einen Schmollmund.

»Oooh!«, rief sie aus. »Sie sind wirklich fürchterlich.«

»Danke«, erwiderte der Einbrecher.

Er verbeugte sich würdevoll, und der Kardinal ging mit seiner Begleiterin weiter. Der Einbrecher schaute ihnen einen Moment nach und blickte sich dann ein paarmal neugierig im Raum um. So, als ob er nach jemandem Ausschau hielte. Schließlich spazierte er weiter.

 

 

II

EINE halbe Stunde später stand der Einbrecher allein und betrachtete nachdenklich die vorbeiwirbelnden Tänzer. Eine Hand berührte leicht seinen Arm – er fuhr ein wenig zusammen – und in sein Ohr klang eine Stimme mit dem sanften Ton einer Liebenden.

»Ausgezeichnet, Dick, ausgezeichnet!«

»Natürlich die Schatulle. Hast du sie bekommen?«

Der Einbrecher drehte sich rasch um, um sich einem Mädchen gegenüber zu finden – einem Mädchen aus dem Goldenen Westen, mit herrlich gerundetem Kinn, leicht geöffneten rosenroten Lippen und erwartungsvoll funkelnden Augen so blau wie – so blau wie – nun, es waren blaue Augen. Eine missgünstige Maske verbarg Wangen und Stirn, aber darüber saß arrogant auf adrettem, rötlich-goldenem Haar ein Sombrero, mit einem dreifarbigen Band protzend. Ein Revolver schwang an ihrer Hüfte – der falschen Hüfte – und ein Bowie-Messer, sonderbar harmlos in seiner Erscheinung, steckte in ihrem Gürtel. Der Einbrecher blickte einen Moment lang verwundert, dann lächelte er.

»Woran hast du mich erkannt?«, fragte er.

»An deinem Kinn«, erwiderte sie. »Du wirst dich nie hinter einer Maske verstecken können, die das nicht verdeckt.«

Der Einbrecher berührte sein Kinn mit einer behandschuhten Hand.

»Ich vergaß das«, bemerkte er reuevoll.

»Hast du mich nicht gesehen?«

»Nein.«

Das Mädchen schob sich näher, legte eine Hand leicht auf seinen Arm und senkte ihre Stimme geheimnisvoll.

»Ist alles bereit?«, fragte sie.

»Oh, ja«, versicherte er ihr schnell. Auch seine Stimme klang vorsichtig leise.

»Bist du mit dem Auto gekommen?«

»Ja.«

»Und die Schatulle?«

Für einen Augenblick zögerte der Einbrecher.

»Die Schatulle?«, wiederholte er.

»Natürlich die Schatulle. Hast du sie bekommen?«

Der Einbrecher blickte sie mit einem neuen, geschäftsmäßigen Ausdruck auf seinen Lippen an. Das Mädchen gab seinen festen Blick für einen Augenblick zurück, dann senkten sich ihre Augen. Ihr weißes Kinn färbte sich leicht. Der Einbrecher lachte plötzlich bewundernd auf.

»Ja, ich habe sie,« sagte er.

Sie hote tief Luft, und ihre weißen Hände zitterten ein wenig.

»Wir müssen in ein paar Minuten gehen, oder?«, fragte sie unruhig.

»Ich denke schon«, erwiderte er.

»Auf jeden Fall bevor die Masken abgenommen werden«, sagte sie, »weil – weil ich glaube, da ist jemand hier, der weiß oder ahnt, dass –«

»Ahnt was?«, verlangte der Einbrecher.

»Sch-h-h-h!«, warnte das Mädchen und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Nicht so laut. Jemand könnte etwas hören. Hier kommen ein paar Leute, vor denen ich mich fürchte. Sie kennen mich. Triff mich im Wintergarten in fünf Minuten. Ich will nicht, dass sie mich mit dir sprechen sehen.«

Sie entfernte sich rasch, und der Einbrecher blickte ihr mit Bewunderung und einem nicht ganz so greifbaren Ausdruck in seinen Augen nach. Er war dabei, sich dem Wintergarten zuzuwenden, als er in die Arme eines übergroßen, unvorteilhaft in das Gewand eines Höflings gekleideten Mannes lief. Das plumpe Individuum trat zurück und musterte ihn abschätzend.

»Sag mal, mein Junge, das ist aber eine klasse Aufmachung, die du da bekommen hast«, bemerkte er.

Der Einbrecher sah ihn kurz in höflicher Überraschung an – vielleicht war es der Ton der Bemerkung.

»Freut mich, dass sie Ihnen gefällt«, sagte er kühl und ging weiter.

Als er im Wintergarten wartete, starb die Belustigung in seinen Augen ab und seine Lippen bildeten eine gerade, scharfe Linie. Er hatte das plumpe Individuum mit einem anderen Mann sprechen und dabei ungefähr in Richtung des Wintergartens deuten sehen. Nach einem Moment kehrte das Mädchen in tiefer Erregung zurück.

»Wir müssen jetzt gehen – sofort«, flüsterte sie eilig. »Sie verdächtigen uns. Ich weiß es, ich weiß es!«

»Ich fürchte auch«, sagte der Einbrecher grimmig. »Das ist der Grund, warum der Polizist mit mir sprach.«

»Polizist?«, keuchte das Mädchen.

»Ja, ein Polizist, verkleidet als Gentleman.«

»Oh, wenn sie uns beobachten, was sollen wir tun?«

Der Einbrecher warf einen kurzen Blick hinaus und drehte sich, als er den Mann, mit dem das plumpe Individuum gesprochen hatte, auf den Wintergarten zukommen sah, rasch zu dem Mädchen um.

»Du willst wirklich mit mir kommen?«, fragte er.

»Natürlich«, erwiderte sie ungeduldig.

»Du machst damit keinen Fehler?«

»Nein, Dick, nein!«, sagte sie wieder. »Aber wenn wir geschnappt werden –«

»Mach genau, was ich sage, und wir werden nicht geschnappt«, erklärte der Einbrecher. Sein Ton war nun scharf, befehlend. »Begib dich alleine zum Vordereingang. Geh hinaus, als ob du frische Luft schnappen willst. Ich werde in einer Minute folgen. Halte nach mir Ausschau. Dieser Detective wird mir für meinen Geschmack zu neugierig. Draußen nehmen wir das erstbeste Auto und verschwinden damit.«

Er fingerte nachdenklich an seinem Revolver, während er in den Ballsaal starrte. Das Mädchen klammerte sich für einen Moment hilflos an ihn, ihre Hand zitterte auf seinem Arm.

»Ich habe Angst«, gestand sie. »Oh, Dick, wenn –«

»Verlier nicht deine Nerven«, befahl er. »Wenn das geschieht, werden wir beide geschnappt. Geh jetzt, und mach, was ich sage. Ich werde nachkommen – aber ich könnte in Eile sein. Halte Ausschau nach mir!«

Das Mädchen klammerte sich für einen weiteren kurzen Moment an seinen Arm.

»Oh, Dick, Liebling!«, flüsterte sie. Dann, sich umdrehend, verließ sie ihn.

Von der Tür des Wintergartens aus betrachtete der Einbrecher ihre herrliche, geschmeidige Figur, als sie sich durch die Menge schlängelte. Schließlich verschwand sie aus seinem Blick, und er schlenderte scheinbar sorglos in Richtung Eingang. Einmal blickte er kurz zurück. Das plumpe Individuum folgte ihm langsam. Dann sah er, wie sich ein livrierter Diener dem Gastgeber näherte und aufgeregt mit diesem flüsterte.

»Das ist mein Stichwort, abzuhauen«, meinte der Einbrecher grimmig zu sich selbst.

Weiter beobachtend, sah er den Diener direkt auf sich zeigen. Der Gastgeber nahm mit einer plötzlichen Bewegung seine Maske ab, und der Einbrecher beschleunigte seinen Schritt.

»Haltet den Mann!«, rief der Gastgeber.

Für einen kurzen Moment herrschte jene Totenstille, die einem allgemeinem Erstaunen folgt – und der Einbrecher rannte auf Tür zu. Mehrere Hände streckten sich aus der Menge nach ihm aus.

»Da geht er, da!«, rief der Einbrecher aufgeregt aus. »Der Mann da vorne! Ich schnappe ihn mir!«

Diese List öffnete ihm den Weg, und er kam durch. Das Mädchen wartete am Fuß der Stufen.

»Sie kommen!«, stieß er hervor und zerrte sie mit sich weiter. »Steig in das letzte Auto dort am Ende!«

Ohne ein Wort rannte das Mädchen zu dem Auto und kletterte auf den Vordersitz. Mehrere Männer stürzten aus dem Haus. Erstaunt folgten ihre Augen der vagen Figur des Einbrechers, während er im Schatten einer Wand entlangsprintete. Er blieb unter einem Fenster kurz stehen, hob etwas auf und rannte dann auf das Auto zu.

»Haltet ihn!«, kam ein Schrei.

Der Einbrecher warf seine Last in den Wagen, wo sie mit einem Klappern zu Füßen des Mädchens fiel, und sprang. Das Auto schwankte, als er neben ihr landete. Mit einer schnellen Drehung des Lenkrades lenkte er nach außen.

»Schnell, Dick, sie kommen!«, keuchte das Mädchen.

Der Moter unter ihnen brummte und schnaufte, und das Auto begann sich zu bewegen.

»Halt, oder ich schieße«, kam ein weiterer Schrei.

»Runter!«, befahl der Einbrecher.

Seine Hand fiel schwer auf die Schulter des Mädchens, und er zog sie unter die Höhe des Sitzes. Dann, sich selbst tief über das Lenkrad duckend, gab er dem Auto halbe Kraft. Es sprang im Schein des eigenen Lichts auf die Straße hinaus, gerade als von hinten ein Pistolenschuss kam, unmittelbar gefolgt von einem weiteren.

Das Auto jagte weiter.

Es sprang im Schein des eigenen Lichst auf die Straße hinaus

 

III

STUYVESANT RANDOLPH, Millionär, Besitzer von Seven Oaks und Gastgeber des Maskenballs, konnte der Polizei nur mitteilen, was geschehen war, aber nicht Art und Weise des Geschehens. Kurz gefasst hatte ein Dieb, sehr gerissen verkleidet als Einbrecher mit dunkler Laterne und Revolver in der Hand, den Maskenball durch Eintreten durch die Vordertüre und dem Vorweisen einer Einladungskarte heimlich besucht. Und als Mr. Randolph in seiner Geschichte so weit gekommen war, konnte selbst er nicht ernst bleiben.

Zusammengefasst ergab der gemeinsame Wissensstand folgendes:

Bald nach der Polonaise betrat ein Diener das Raucherzimmer und fand den Einbrecher dort alleine vor, neben einem offenen Fenster stehend, aus dem er schaute. Dieses Raucherzimmer war durch einen Korridor mit einem kleinen Esszimmer verbunden, in dem das Randolph'sche Goldservice in betont auffälliger Abgeschlossenheit aufbewahrt wurde. Als der Diener das Raucherzimmer betrat, wandte sich der Einbrecher vom Fenster ab und ging hinaus in den Ballsaal. Er trug kein Bündel; er machte nicht den Eindruck, aufgeregt zu sein.

Fünfzehn oder zwanzig Minuten später entdeckte der Diener, dass elf Teller des goldenen Services, grob geschätzt auf einen Wert von 15.000 $, fehlten. Er informierte Mr. Randolph. Natürlich hob diese Nachricht nicht gerade das Vergnügen des Gastgebers an dem Ball, und er reagierte hastig.

Unterdessen – das heißt, zwischen der Zeit, als der Einbrecher das Raucherzimmer verließ, und der Zeit, als er durch die Vordertür verschwand – hatte sich der Einbrecher länger mit einem maskierten Western-Mädchen unterhalten. Es konnte festgehalten werden, dass sie, nachdem sie ihn im Wintergarten zurückgelassen hatte, durch die Vordertür hinausging. Dort schloss sich ihr der Einbrecher an, und dann kam ihre sensationelle Flucht in dem Automobil – ein Auto mit vierzig Pferdestärken, das schnell wie der Wind war. Das Automobil, in dem der Einbrecher nach Seven Oaks gekommen war, wurde zurückgelassen; bis jetzt war noch kein Anspruch darauf erhoben worden.

Die Identität von Einbrecher und Mädchen machten das eigentliche Geheimnis aus. Es ließ sich leicht vermuten – das sagte zumindest die Polizei – wie der Einbrecher mit dem Goldservice entkam. Er ging in das Raucherzimmer, dann in das Esszimmer, steckte das Goldservice in einen Beutel und warf diesen aus einem Fenster. Ganz einfach. Was genau das Mädchen damit zu tun hatte, war nicht wirklich klar; vielleicht hatten jede Menge von Schmuckstücken, die von den Gästen als vermisst gemeldet wurden, ihre Aufmerksamkeit erregt.

Es war ebenso leicht nachzuvollziehen, wie der Einbrecher und das Mädchen imstande gewesen waren, die Polizei, die sie in zwei weiteren Automobilen verfolgte, abzuschütteln. Das Auto, das sie gewählt hatten, war zugegebenermaßen das schnellste aller vorhandenen gewesen, die Nacht war stockfinster, und außerdem war einem Einbrecher wie diesem alles zuzutrauen. Zwei Schüsse waren von dem plumpen Höfling, in Wirklichkeit Detective Cunningham, auf ihn abgegeben worden, aber diese hatten ihn nur weiter angespornt.

Diese Dinge waren noch recht einfach zu verstehen. Aber die Identität des Paares war ein anderer und wesentlich schwierigerer Fall, und es blieb die Aufgabe übrig, sie aus dem Dunkel zu holen. Dieses Los fiel Detective Mallory zu, dem Chefermittler des Metropolitan Distrikts, der glücklich eine Schuhgröße Nr. 11 mit einer Hutgröße Nr. 6 verband. Er war ein vorsichtiger, mißtrauischer, weitblickender Mann – für einen Polizeibeamten. So erklärte er zum Beispiel die Methode des Diebstahls mit einer Klarheit, die erstaunlich war.

Detective Mallory und zwei oder drei von seinen Satelliten hörten sich Mr. Randolphs Geschichte an, dann die Aussagen von seinen beiden Männern, die den Ball in Kostüm besucht hatten, und die Aussagen der Dienerschaft. Nach all dem kaute Mr. Mallory an seiner Zigarre und dachte für mehrere Minuten angestrengt nach. Mr. Randolph beobachtete ihn erwartungsvoll, er wollte auf keinen Fall etwas versäumen.

»Wenn ich es recht verstehe, Mr. Randolph« sagte der Chefermittler schließlich, »trug jede Einladungskarte, die an der Tür durch Ihre Gäste vorgezeigt wurde, den Namen der Person, an die sie geschickt worden war?«

»Ja«, erwiderte Mr. Randolph.

»Ah!«, rief der Detective gewitzt. »Dann haben wir einen Hinweis.«

»Wo sind diese Karten, Curtis?«, fragte Mr. Randolph den Diener, der sie an der Tür in Empfang genommen hatte.

»Ich wusste nicht, dass sie noch von weiterem Wert waren, Sir, und sie wurden weggeworfen – in den Ofen.«

Mr. Mallory wirkte geknickt.

»Haben Sie bemerkt, ob die Karte, die der Einbrecher an dem Abend des Maskenballs in Seven Oaks vorwies, einen Namen trug?«, fragte er. Er liebte es, sich so deutlich auszudrücken.

»Ja, Sir. Ich bemerkte es vor allem deshalb, weil der Gentleman so eigenartig gekleidet war.«

»Erinnern Sie sich an den Namen?«

»Nein, Sir.«

»Würden Sie sich daran erinnern, wenn sie ihn wieder sehen oder hören würden?«

Der Diener blickte hilflos zu Mr. Randolph.

»Ich glaube nicht, Sir«, antwortete er.

»Und das Mädchen? Haben Sie die Karte bemerkt, die sie Ihnen gab?«

»Ich erinnere mich überhaupt nicht an sie, Sir. Viele von den Damen trugen Mäntel, als sie hereinkamen, und ihr Kostüm wäre nicht zu sehen gewesen, wenn sie einen angehabt hatte.«

Der Chefermittler dachte ein paar weitere Minuten nach. Schließlich wandte er sich wieder an Mr. Randolph.

»Sie sind sicher, dass nur ein Mann auf dem Ball war, der als Einbrecher verkleidet war?«, fragte er.

»Ja, Gottseidank«, erwiderte Mr. Randolph inbrünstig. »Wenn da noch ein anderer gewesen wäre, hätten sie vielleicht das Piano mitgehen lassen.«

Der Chefermittler runzelte die Stirn.

»Und dieses Mädchen war gekleidet wie ein Western-Mädchen?«, fragte er.

»Ja. Eine Art ›Spirit-of-the-West‹-Kostüm.«

»Und keine andere Frau dort trug eine solche Kleidung?«

»Nein«, erwiderte Mr. Randolph.

»Nein«, hallte von den beiden Detectives wider.

»Nun, Mr. Randolph, wie viele Einladungen wurden für den Ball ausgegeben?«

»Drei- oder vierhundert. Es ist ein großes Haus«, entschuldigte sich Mr. Randolph, »und wir versuchen, das Ganze angemessen zu organisieren.«

»Wie viele Personen, schätzen Sie, besuchten tatsächlich den Ball?«

»Oh, ich weiß nicht. Dreihundert vielleicht.«

Detective Mallory dachte wieder nach.

»Es ist unbestritten das Werk von zwei verwegenen und schlauen professionellen Gaunern«, sagte er schließlich klar urteilend, und seine Satelliten hingen voll gespannter Ungeduld an seinen Worten. »Es hat alle Anzeichen. Sie planten das Ding möglicherweise schon Wochen vorher und fälschten Einladungskarten, oder stahlen diese vielleicht – stahlen diese vielleicht.«

Er drehte sich plötzlich um und zeigte mit einem anklagenden Finger auf den Diener, Curtis.

»Haben Sie die Handschrift auf der Karte bemerkt, die der Einbrecher Ihnen gab?«, verlangte er.

»Nein, Sir. Nicht unbedingt.«

»Ich meine, entsinnen Sie sich, ob sie sich in irgendeiner Weise von der Handschrift auf den anderen Karten unterschied?«, beharrte der Cherermittler.

»Ich glaube nicht, dass sie verschieden war, Sir.«

»Wenn sie es gewesen wäre, würden Sie es bemerkt haben?«

»Es könnte sein, dass ich das hätte, Sir.«

»Sind alle Namen auf allen Einladungkarten von derselben Hand geschrieben worden, Mr. Randolph?«

»Ja, von der Sekretärin meiner Frau.«

Detective Mallory erhob sich und und schritt mit Falten auf seiner Stirn im Raum auf und ab.

»Ah!«, sagte er schließlich, »dann wissen wir, dass die Karten nicht gefälscht wurden, sondern jemandem gestohlen, dem sie zugeschickt worden waren. Soviel wissen wir, daher –« er hielt einen Moment inne.

»Daher müssen wir lediglich herausfinden«, beendete Mr. Randolph den Satz, »wem die Karte oder die Karten gestohlen worden sind, wer sie an meiner Tür vorgezeigt hat, und wer mit dem Service entkommen ist.«

Der Chefermittler schaute ihn böse an. Mr. Randolph's Gesicht war vollkommen ernst. Es war sein Goldservice, wissen Sie.

»Ja, so ist es«, willigte Detective Mallory ein. »Dann wollen wir die Sache mal richtig angehen. Downey, du holst das Automobil, das der Einbrecher in Seven Oaks zurückgelassen hat, und machst den Besitzer ausfindig; finde auch das Auto, in dem der Einbrecher und das Mädchen entkommen sind. Cunningham, du begibst dich nach Seven Oaks und durchsuchst das Gelände. Überprüfe vor allem, ob das Mädchen einen Mantel zurückgelassen hat – als sie von dort verschwunden ist, hat sie keinen getragen – und gehe dem nach. Blanton, du nimmst eine Liste der eingeladenen Gäste, die dir Mr. Randolph geben wird, hakst alle Personen ab, von denen bekannt ist, dass sie auf dem Ball gewesen sind, und findest alles über jene heraus, die nicht dort gewesen sind, und – gehst dem nach.«

»Das wird Wochen dauern!«, beschwerte sich Blanton.

Der Chefermittler wandte sich ihm böse zu.

»Was?«, fuhr er auf. Er starrte ihn noch einen Moment an, und Blanton schrumpfte unter dem wütenden Blick seines Vorgesetzten zusammen. »Und«, fügte Detective Mallory großmütig hinzu, »ich werde den Rest erledigen.«

So wurde der Feldzug gegen den Einbrecher und das Mädchen geplant.

 

 

IV

HUTCHINSON HATCH war ein Zeitungsreporter, ein langer, magerer, hungrig aussehender junger Mann mit einem unersättlichen Appetit für Fakten. Letzteres war möglicherweise eine erstaunliche Eigenschaft für einen Reporter; und Hatch war in diesem Punkt wirklich schwer zufriedenzustellen. Das war auch der Grund, warum sein Redakteur so an ihn glaubte. Wäre Hatch hereingekommen, um seinem Redakteur erzählen, dass er einen blauen Elefanten mit rosa Backenbart gesehen habe, sein Redakteur hätte gewusst, dass dieser Elefant blau war – geistig, moralisch, körperlich, spirituell und für immer – nicht irgendwie ausgewaschen grün oder violett, sondern blau.

Hatch war auch auf andere Weise bemerkenswert. Er glaubte zum Beispiel an den Einsatz von ein wenig menschlicher Intelligenz in seinem Beruf. Tatsächlich hatte er bei mehreren Gelegenheiten demonstriert, dass das wirklich eine exzellente Sache war – die menschliche Intelligenz. Sein Verstand war recht selbstsicher, seine Methoden gründlich, sein Stil direkt.

Gemeinsam mit dutzenden anderen Kollegen arbeitete Hatch am Randolph-Raub und wusste, was auch die anderen wussten – nicht mehr. Er hatte den Fall so genau studiert, dass er, seltsam genug, zu glauben begann, dass die Polizei mit ihrer Theorie bezüglich der Identität des Einbrechers und des Mädchens richtig lag – das heißt, dass es sich um professionelle Gauner handelte. Hin und wieder gelang ihm das – seinen Verstand dazu zu bewegen, die Möglichkeit zuzugeben, dass auch jemand anderes recht haben konnte.

Am Samstag nachmittag – zwei Tagen nach der Randolph-Affäre – saß Hatch in Detective Mallory's Privatbüro im Polizeipräsidium, um dem Chefermittler mühsam jene Details zu entlocken, die er noch nicht über den Raub herausgefunden hatte. Das Telefon läutete. Hatch bekam das eine Ende des Gesprächs mit – er konnte nicht anders. Es verlief ungefähr so:

»Hallo! . . . Ja, Detective Mallory . . . Vermisst? . . . Wie lautet ihr Name? . . . Was? . . . Oh, Dorothy! . . . Ja? . . . Merrit? . . . Oh, Merryman! . . . Nun, was zum Teufel ist es dann? . . . BUCHSTABIEREN SIE ES! . . . M-e-r-e-d-i-t-h. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? . . . Seit wann ist sie verschwunden? . . . Huh? . . . Donnerstag abend? . . . Wie sieht sie aus? . . . Rostbraunes Haar. Rot, meinen Sie? . . . Oh, rötlich! Ich würde gerne wissen, wo hier der Unterschied ist.«

Der Detective hatte einen Block Papier herangezogen und notierte, wie Hatch vermutete, die Beschreibung des vermissten Mädchens. Dann:

»Wer spricht?«, fragte der Detective.

Es folgte eine kleine Pause, während der er die entsprechende Antwort erhielt, und er ließ, nachdem er sie schließlich erhalten hatte, einen erstaunten Pfiff hören, woraufhin er dem Reporter rasch einen Blick zuwarf, der träumend aus dem Fenster starrte.

»Nein«, sagte der Chefermittler über das Telefon. »Es wäre nicht klug, es öffentlich zu machen. Das ist überhaupt nicht notwendig. Ich habe verstanden. Ich werde sofort eine Suche anordnen. Nein. Die Zeitungen werden nichts davon bekommen. Auf Wiederhören.«

»Eine Story?« fragte Hatch sorglos, als der Detective den Hörer aufhängte.

»Gibt nichts her«, war die Antwort.

»Ja, das war offensichtlich«, bemerkte der Reporter trocken.

»Nun, was immer es ist, es wird nicht veröffentlicht«, erwiderte der Chefermittler scharf. Er hatte Hatch sowieso nie gemocht. »Das gehört zu den Dingen, denen nichts Gutes aus den Zeitungen erwächst, deshalb lasse ich auch nichts davon an sie weitergeben.«

Hatch gähnte, um zu zeigen, dass er kein weiteres Interesse an der Angelegenheit hatte, und ging hinaus. Aber der Keim einer Idee, die Detective Mallory wohl erschreckt hätte, befand sich in seinem Kopf, und er schritt draußen auf und ab, um diese weiterzuentwickeln. Ein Mädchen vermisst! Ein rothaariges Mädchen vermisst! Ein rothaariges Mädchen seit Donnerstag vermisst! Donnerstag war die Nacht des Randolph-Maskenballs gewesen. Das vermisste Mädchen aus dem Westen war rothaarig gewesen! Mallory hatte überrascht gewirkt, als er den Namen der Person vernahm, die diesen letzten Fall meldete! Daher musste die Person, die ihn meldete, hochgestellt sein – möglicherweise! Auf jeden Fall hochgestellt genug, um nach dem Gefallen einer polizeilichen Unterdrückung fragen zu können und diesen auch zu erhalten – und der Name des vermissten Mädchens lautete Dorothy Meredith!

Hatch verweilte lange Zeit still am Bordstein und knobelte das Ganze aus. Auf einmal eilte er zu einem Telephon und rief Stuyvesant Randolph in Seven Oaks an. Beklommen stellte er die erste Frage.

»Mr. Randolph, können Sie mir die Adresse von Miss Dorothy Meredith geben?«

»Miss Meredith?«, kam die Antwort. »Mal sehen. Ich glaube, sie hält sich bei den Morgan Greytons auf, in deren Vorstadtvilla.«

Der Reporter schluckte einen Aufschrei hinunter. »Hat funktioniert, Donnerwetter!«, sagte er zu sich selbst. Dann mit einer tödlichen, erzwungenen Ruhe: »Sie hat den Maskenball Donnerstag abend besucht, nicht wahr?«

»Nun, sie war eingeladen.«

»Sie haben sie nicht dort gesehen?«

»Nein. Wer ist denn da überhaupt?«

Hatch hing den Hörer auf. Er verschluckte sich fast vor Aufregung, denn in Ergänzung zu all den Tugenden, die bereits aufgezählt wurden, besaß er auch die Eigenschaft der Begeisterung. Es war nicht seine Absicht, irgendjemandem irgendetwas zu erzählen. Er war überzeugt, dass Mallory nicht wusste, dass das Mädchen ein möglicher Gast auf dem Ball gewesen war. Und was Mallory jetzt nicht wusste, würde er auch nicht mehr herausfinden – eine ziemlich traurige Einschätzung des Detectives.

In dieser Geistesverfassung brach Hatch zur Vorstadtvilla der Greytons auf. Er fand das Gebäude ohne Schwierigkeit. Morgan Greyton war ein älterer Gentleman von Reichtum und teuren Ideen – und war nicht anwesend. Hatch übergab eine Karte, die nur seinen Namen trug, einem Dienstmädchen, und nach ein paar Minuten erschien Mrs. Greyton. Sie war eine mütterliche, liebliche alte Dame von siebzig, mit dieser ernsten, feinen Höflichkeit, die so manchen Mann mit Scham erfüllen konnte. Hatch verspürte dieses Gefühl, als er sie anschaute und an das dachte, was er fragen wollte.

»Ich bin direkt vom Polizeipräsidium hierhergekommen«, erklärte er diplomatisch, »um auch jede noch so kleine Einzelheit zu erfahren, die Sie uns zum Verschwinden von Miss Meredith mitteilen können.«

»Oh, ja«, erwiderte Mrs. Greyton. »Mein Mann sagte schon, dass er die Absicht habe, die Polizei zu bitten, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Es ist überaus mysteriös – überaus mysteriös! Wir können uns nicht vorstellen, wo Dolly ist, es sei denn, dass sie durchgebrannt ist. Wissen Sie, dass mir dieser Gedanke immer wieder kommt und nicht verschwinden will?«

Sie sprach, als ob es sich dabei um ein unartiges Kind handeln würde.

»Wenn Sie mir irgendetwas über Miss Meredith erzählen könnten – wer sie ist und all das?«, schlug Hatch vor.

»Oh, ja, selbstverständlich«, rief Mrs. Greyton aus. »Dolly ist eine entfernte Cousine des Gatten von meines Gatten Schwester«, erklärte sie präzise. »Sie lebt in Baltimore, aber besucht uns zur Zeit. Sie wohnte seit mehreren Wochen hier. Sie ist ein liebes, süßes Mädchen, aber ich fürchte – fürchte, sie ist durchgebrannt.«

Die betagte Stimme zitterte ein wenig, und Hatch schämte sich mehr als je zuvor vor sich selbst.

»Vor einiger Zeit traf sie einen Mann namens Herbert – Richard Herbert, glaube ich, und –«

»Dick Herbert?«, rief der Reporter plötzlich aus.

»Kennen Sie den jungen Mann?«, forschte die alte Dame gespannt.

»Ja, wir waren zufällig Studienkollegen in Harvard«, sagte der Reporter.

»Und ist er ein netter junger Mann?«

»Ein guter, gepflegter, geradliniger, anständiger Mann«, erwiderte Hatch.

»Nun, aus einem Grund, den ich nicht kenne, ist Dollys Vater dagegen, dass Mr. Herbert ihr den Hof macht – tatsächlich hat Mr. Meredith dies strikt verboten – aber sie ist ein junges, willensstarkes Mädchen, und ich fürchte, dass sie, obwohl sie nach außen hin den Wünschen ihres Vaters nachgegeben hat, heimlich eine Korrespondenz mit Mr. Herbert aufrechterhalten hat. Letzten Donnerstag abend ging sie unbegleitet aus, und seither haben wir nichts von ihr gehört – nicht ein Wort. Wir können nur vermuten – mein Gatte und ich –, dass sie durchgebrannt sind.«

»Wissen Sie zufällig«, fragte er, »ob Miss Meredith den Randolph-Ball in Seven Oaks am Donnerstag abend besuchte?«

»Nein, ich glaube kaum, dass sie dorthin ging«, erwiderte Mrs. Greyton. »Sie hatte sich keinerlei Kostüm machen lassen. Nein, ich bin sicher, dass sie mit Mr. Herbert durchgebrannt ist, aber ich würde gerne etwas von ihr hören, um mich selbst beruhigen und es ihren Eltern erklären zu können. Wir haben Mr. Herbert nicht erlaubt hierherzukommen, und es wird sehr schwierig werden, das alles zu erklären.«

»Ich nehme nicht an, dass die Möglichkeit besteht, dass Miss Meredith nach Baltimore zurückgekehrt ist?«, fragte er.

»Oh, nein!«, war die bestimmte Antwort. »Ihr Vater telegrafierte ihr heute von dort – ich öffnete das Telegramm –, um ihr mitzuteilen, dass er höchstwahrscheinlich heute nacht hier eintreffen würde.«

Nun gab Hatch seiner Scham nach und verabschiedete sich. Das Dienstmädchen begleitete ihn zur Tür.

»Wieviel ist Ihnen die Information wert, ob Miss Meredith auf den Maskenball ging?«, fragte das Dienstmädchen vorsichtig.

Hatch streckte seine Hand aus. Sie nahm einen Zehn-Dollar-Schein, der darauf lag, und verbarg ihn an einer abgelegenen Stelle ihres Körpers.

»Miss Meredith ging zu dem Ball«, sagte sie. »Sie ging dorthin, um Mr. Herbert zu treffen. Sie hatten vereinbart, gemeinsam durchzubrennen.«

»Was hat sie getragen?«, fragte Hatch eifrig.

»Ihre Verkleidung stellte ein Western-Mädchen dar«, erwiderte das Dienstmädchen.

 

 

V

INTENSIV über all diese Dinge nachgrübelnd, bestand Hatchs nächster Zug darin, Dick Herbert aufzusuchen. Er war zu sehr in seine Gedanken versunken, um zu bemerken, dass die Jalousien des Hauses heruntergezogen waren. Er läutete, und nach einer langen Zeit beantwortete ein Diener die Glocke.

»Ist Mr. Herbert zu Hause?«, fragte Hatch.

»Ja, Sir, er ist hier«, erwiderte der Diener, »aber ich weiß nicht, ob er Sie empfangen kann. Er fühlt sich nicht sehr wohl, Sir.«

»Wer ist es, Blair?«, kam Herberts Stimme vom oberen Absatz der Treppe.

»Mr. Hatch, Sir.«

»Komm herauf, Hatch!«, rief Dick freundlich. »Freue mich, dich zu sehen. Ich fühle mich hier so einsam, dass ich nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll.«

Der Reporter eilte die Stufen hinauf und in Dicks Zimmer.

»Nicht diese.« lächelte Dick, als Hatch nach seiner rechten Hand greifen wollte. »Sie ist nicht zu gebrauchen. Versuch's mit dieser –« Und er bot seine linke Hand an.

»Was ist geschehen?«, forschte Hatch.

»Leicht verletzt, das ist alles«, sagte Dick. »Setz dich. Ist mir vorige Nacht passiert, und seither bin ich mit Blair allein in diesem großen Haus. Der Doktor hat mir geraten, mich jetzt noch nicht hinauszuwagen. Es ist ziemlich einsam gewesen. Alle meine Leute sind weg, oben in Nova Scotia, und haben die anderen Diensboten mitgenommen. Aber wie geht es dir?«

Hatch setzte sich und blickte Dick nachdenklich an. Herbert war eine gutaussehende, kraftvolle Persönlichkeit von achtundzwanzig oder dreißig Jahren, und ein erstklassiger Right-Guard. Nun wirkte er ein wenig abgespannt, und es war eine gewisse Blässe unter der natürlichen Bräune zu bemerken. Er war ein junger Mann aus guter Familie, entlastet durch ein immenses Vermögen, der aber in seiner eigenen Person die wesentlichen Voraussetzungen für Erfolg aufwies.

»Ich bin zu dir gekommen, um in meiner beruflichen Funktion etwas mit dir zu besprechen«, begann der Reporter endlich; »und, offen gesagt, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

Dick richtete sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck in seinem Stuhl auf.

»Hast du schon die Zeitungen gelesen?«, fragte der Reporter – »das heißt, während der letzten paar Tage?«

»Ja.«

»Dann hast du natürlich auch die Geschichten über den Raub bei Randolph gesehen?«

Dick lächelte ein wenig.

»Ja«, sagte er. »Clever gemacht, nicht wahr?«

»Das war's«, erwiderte Hatch begeistert. »Das war's wirklich«. Er schwieg für einen Moment, als er eine Zigarette annahm und anzündete. »Es könnte nicht sein«, fuhr er fort, »dass du auf Grund irgendeines Zufalls etwas darüber weißt, oder?«

»Nicht über das hinaus, was ich in den Zeitungen gelesen habe. Warum?«

   
»War es ein Pistolenschuss?«, fuhr Hatch ruhig fort

»Ich will offen sein und dir ein paar Fragen stellen, Dick«, fuhr Hatch in einem Ton fort, der sein Unbehagen verriet. »Erinnere dich, ich bin hier in meiner offiziellen Funktion – das heißt, nicht als Freund von dir, sondern als Reporter. Du brauchst die Fragen nicht zu beantworten, wenn du nicht willst.«

Dick erhob sich, leichte Unruhe ausstrahlend, und ging zum Fenster hinüber.

»Was soll das Ganze?«, verlangte er. »Was willst du mich fragen?«

»Weißt du, wo Miss Dorothy Meredith ist?«

Dick drehte sich jäh um und starrte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, wie es Hatch noch aus Football-Tagen kannte.

»Was ist mit ihr?«, fragte er.

»Wo ist sie?«, beharrte Hatch.

»Zu Hause, soviel ich weiß. Warum?«

»Sie ist nicht dort«, informierte ihn der Reporter, »und die Greytons glauben, dass du mit ihr durchgebrannt bist.«

»Mit ihr durchgebrannt?«, wiederholte Dick. »Sie ist nicht zu Hause?«

»Nein. Sie wird seit Donnerstag abend vermisst – dem Abend der Randolph-Affäre. Mr. Greyton hat die Polizei gebeten, nach ihr zu suchen, was diese zur Zeit auch tut, aber im Stillen. Es ist den Zeitungen nicht bekannt – das heißt, den anderen Zeitungen. Dein Name ist der Polizei gegenüber nicht erwähnt worden. Nun, ist es nicht eine Tatsache, dass du die Absicht hattest, mit ihr am Donnerstag abend durchzubrennen?«

Dick durchquerte mehrmals den Raum mit fieberhaften Schritten, dann blieb er vor Hatchs Sessel stehen.

»Das ist nicht irgendein dummer Scherz?«, fragte er heftig.

»Ist es nicht eine Tatsache, dass du die Absicht hattest, mit ihr am Donnerstag abend durchzubrennen?«, fuhr der Reporter ruhig fort.

»Ich werde diese Frage nicht beantworten.«

»Hattest du eine Einladung zum Randolph-Ball erhalten?«

»Ja.«

»Bist du hingegangen?«

Dick starrte geradewegs hinunter in seine Augen.

»Ich werde auch das nicht beantworten«, sagte er nach einer Pause.

»Wo bist du am Abend des Maskenballs gewesen?«

»Genausowenig werde ich darauf antworten.«

Wenn der Instinkt eines Zeitungsmannes voll geweckt ist, hat ein Reporter keine Freunde mehr. Hatch hatte vergessen, dass er Dick Herbert jemals gekannt hatte. Für ihn war der junge Mann nun nur mehr ein Ding, aus dem er gewisse Informationen zum Vorteil der erwartungsvollen Öffentlichkeit herauszupressen vermochte.

»Hat die Verletzung deines Armes«, fuhr er im erprobten Verhalten eines Vertreters der Anklage fort, »dich daran gehindert, zum Ball zu gehen?«

»Ich werde das nicht beantworten.«

»Um was für eine Verletzung handelt es sich?«

»Nun, schau mal, Hatch«, brach es aus Dick heraus, und es war ein gefährlicher Unterton in seinem Auftreten, »ich werde keine weiteren Fragen mehr beantworten – vor allem nicht diese letzte – solange ich nicht weiß, was das Ganze bedeutet. Mehrere Dinge ereigneten sich am Abend des Maskenballs, über die ich weder mit dir noch mit einem anderen sprechen kann, aber dass ich irgendetwas über die Vorfälle auf dem Maskenball wissen müsste – nun, du und ich, wir sprechen nicht im geringsten über die selbe Sache.«

Er schwieg, setzte an, wieder etwas zu sagen, änderte dann seine Meinung und blieb stumm.

»War es ein Pistolenschuss?«, fuhr Hatch ruhig fort.

Dick's Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst, während er den Reporter betrachtete, und er hielt sich nur mit Mühe unter Kontrolle.

»Wie kommst du auf die Idee?«, verlangte er zu wissen.

Hatch würde noch eine lange Zeit gezögert haben, bevor er ihm erzählte, woher er diese Idee erhalten hatte; aber es hing vage mit der Tatsache zusammen, dass zumindest zwei Schüsse auf den Einbrecher und das Mädchen abgegeben worden waren, als sie von Seven Oaks flüchteten.

Aber während der Reporter noch sein Hirn nach einer Antwort auf die Frage durchwühlte, ertönte ein Klopfen an der Tür, und Blair erschien mit einer Karte. Er händigte sie Dick aus, der einen Blick darauf warf, ein wenig überrascht wirkte, dann nickte. Blair verschwand. Einen Augenblick später waren Schritte auf den Stufen zu hören, und Stuyvesant Randolph trat ein.

 

(Fortsetzung folgt)