DER BOGEN


Der größte Gegenstand in der Ausrüstung Ötzls war ein 1,82 Meter langer Stock, der allerdings bei der Bergung abbrach. Dieser Stock wurde von den Wissenschaftlern als unfertiger Bogenstab identifiziert. Ötzl muß also mit der Herstellung eines neuen Bogens sowie neuer Pfeile beschäftigt gewesen sein, als er vor 5000 Jahren in den Ötztaler Alpen umkam.

Der Bogenstab, der sich zu seinen Enden hin verjüngt, ist ungefähr 20 cm größer als Ötzl. Der dem Schützen zugewandte Bogenbauch ist abgerundet, der Bogenrücken dagegen abgeflacht. Die üblichen Merkmale des Bogens, der verdickte Griff (geschnitzt, eventuell Lederbandumwicklung) sowie die Bogenenden zur Befestigung der Bogensehne, sind noch nicht ausgearbeitet.

Wie zeitgenössische Funde (z.B. am Bodensee) belegen, war der Bogen der Mittel- und Jungsteinzeit technisch bereits so ausgereift, daß man heutzutage einen Holzbogen nicht besser herstellen könnte.

Es handelt sich dabei um Langbogen, die meist aus Eibe, dem besten und gesuchtesten Bogenholz Europas, gefertigt worden waren.

Die Gemeine Eibe (Taxus baccata) ist ein bis zu 15 Meter hoher, immergrüner (manchmal auch strauchförmiger) Nadelbaum. Die Nadeln sind kurzstachelig, oben dunkelgrün-glänzend und unten hellgrün-matt und gespalten. Der Baum besitzt eine leuchtend rote, beerenartige Frucht, die den Samen umschließt. Alle Teile des Baumes sind giftig. Der älteste Baum Europas ist eine 8000 Jahre alte (jetzt absterbende) Eibe im schottischen Fortingall. Die Eibe ist als Waldbaum im Aussterben begriffen und steht deshalb unter Naturschutz.

Das Holz der Eibe ist leicht, langlebig, federnd und sehr druckstabil, weshalb es für einen Bogen die idealen Voraussetzungen mitbringt. Allerdings erfordert der Bau eines Eibenbogens eine äußerst aufwendige Herstellungsweise.

Der Bogenstab muß so aus einem armdicken Stamm herausgeschnitzt werden, daß der Bogenbauch aus dem Kernholz und der Bogenrücken aus dem Splintholz des Stammes besteht. Vermutlich benutzte Ötzl dazu das Kupferbeil und den kleinen Feuersteindolch.

Unter dem dunkleren Kernholz, bei der Eibe tief braunrot gefärbt, versteht man den inneren, abgestorbenen Teil des Baumstammes. Das hellere Splintholz, bestehend aus den noch lebenden Holzschichten des Baumes (Weiterleitung von Wasser etc.), befindet sich zwischen Kernholz und Rinde. Das Splintholz der Eibe ist sehr schmal und gelblich-weiß gefärbt.

Das harte Kernholz gibt dem Bogen seine Kraft, während das elastische, biegsame Splintholz verhindert, daß der Bogen bricht. Ein Bogen, der nur aus dem Kernholz gefertigt wurde, kann der Belastung beim Spannen des Bogens nicht standhalten und zerbricht

Die Enden des Bogens werden mit Nockgruben oder mit sogenannten "Rattenschwanzenden" versehen, in die die Bogensehne eingespannt wird. Bei der Nocke wird der Bogenstab ca. 2 cm von den Enden entfernt eingekerbt, beim "Rattenschwanzende" werden die Bogenenden wie ein vorstehender Zapfen ausgearbeitet. Beide Möglichkeiten verhindern, daß die eingespannte Bogensehne abrutscht.

Zum Spannen des Bogens steigt man mit dem rechten Bein in den Bogen. Den unteren Nock mit eingehängter Sehne stemmt man gegen die Innenseite des linken Fußes. Dann biegt man den Bogen nach vorn und befestigt die angezogene Sehne an der oberen Nocke.

Die Spannhöhe, d.i. der Abstand zwischen Bogenstab und Bogensehne, entspricht in etwa der Länge der Faust mit gestrecktem Daumen. Da die Bogensehne sich gegebenenfalls ausweiten kann, muß mitunter nachgespannt werden.

Die Bogensehne selbst kann aus verschiedenen Materialien gefertigt werden. Ötzl führte zwei mögliche Sehnenmaterialien mit sich.

In seinem Köcher wurde eine zu einem länglichen Knäuel gewickelte Schnur gefunden. Ausgewickelt ist die aus 2 bzw. 3 Strängen gezwirnte Schnur ungefähr 2 Meter lang. Hergestellt wurde sie aus Baumbast.

Außerdem befand sich im Köcher noch ein mit Lindenbast umwickeltes Bündel, das zwei Tiersehnen enthielt. Vermutlich handelt es sich um die Achillessehnen eines Hirsches oder Rindes, die frisch aus dem Tier herausgeschnitten wurden. Diese Tiersehnen können ebenfalls als Rohmaterial für eine Bogensehne gedient haben. (Aufgefasert und gedrillt kann aus diesen Sehnen auch der Faden gewonnen werden, mit dem der Großteil von Ötzls Kleidung genäht war).

Welche Technik Ötzl beim Bogenschießen angewandt hat, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Möglicherweise kam bereits die aus dem Mittelalter bekannte 'Mittelmeerspannung' zur Anwendung. Bei dieser heute noch üblichen Methode benutzt man beim Spannen der Sehne zwei bis drei Finger, wobei der Pfeil zwischen Zeige- und Mittelfinger gehalten wird.

Der Pfeil sitzt mit seiner Kerbe (Klemmnock) so fest in der Sehne des Bogens, daß er auch dann nicht rausfallen kann, wenn man ihn nicht mit der Hand festhält. Das hat vor allem im Winter den Vorteil, daß man bei steifen Fingern (oder mit in Handschuhen steckenden Händen) unterhalb des Pfeils in die Sehne greifen und diese mit der ganzen Hand zurückziehen kann.


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