DIE GEWINNUNG VON FASERN


Fäden, Schnüre und sogar Seile gewannen die Menschen der Steinzeit sowohl aus pflanzlichen als auch tierischen Fasern. Diese wurden zu einzelnen Garnen zusammengedreht, von denen zwei oder drei miteinander verzwirnt wurden. So waren die Kleidungsstücke des Gletschermannes mit Fäden aus Tiersehnen vernäht, während er spätere Reparaturen an der Kleidung mit Fäden aus Gräsern vornahm. Zudem befanden sich fertige Grasschnüre und Tiersehnen im Rohzustand in Ötzls Gepäck. Das längste dieser Schnurstücke mißt 87 Zentimeter; diese Schnur muß allerdings noch länger gewesen sein, weil beide Enden abgerissen waren.


Pflanzliche Fasern lieferten den Menschen u.a. Baumbast, Flachs, das in der Jungsteinzeit bereits als Nutzpflanze landwirtschaftlich angebaut wurde, Hanf und Nesseln. Überreste von Nesseln fand man z.B. in der Nähe der Schweizer Pfahlbauten (ca. 3000 v. Chr.). Baumbast konnte ebenfalls zu Schnüren verarbeitet werden.

Die in den gemäßigten Breiten heimische Große Brennessel (Urtica dioica) dürfte für die Gewinnung von pflanzlichen Fasern eine große Rolle gespielt haben. Zum einen besiedelte diese anspruchslose Pflanze die meist stickstoffreichen Böden in der Nähe menschlicher Wohnstätten sowie die Ufer von Flußläufen, zum anderen besaß sie im Gegensatz zu den Einjahrespflanzen Hanf und Flachs bzw. der einjährigen, bis zu 60 cm hohen Kleinen Brennessel (Urtica urens) eine Lebensdauer von bis zu 12 Jahren.

Sie ist im Laufe der Geschichte wiederholt vom Menschen zu verschiedenen Zwecken verwendet worden (Heilpflanze, Gemüse und Futtermittel), wobei die Fasernutzung aber meist im Vordergrund stand.

Die Große Brennessel wird zwischen 30 und 150 cm hoh und besitzt einen vierkantigen, holzigen Stengel sowie graugrüne, herzförmige und am Rand grobgesägte Blätter. Sowohl Stengel als auch Blätter sind mit feinen Brennhaaren besetzt, deren feine Spitzen bei Berührung abbrechen und Ameisensäure freisetzen, die brennende Schmerzen erzeugt.

Die bis zu 5 cm langen, sehr starken Fasern der Brennesseln sind vor allem in der Rinde des Stengels, zwischen der sogenannten Oberhaut und dem Holzkörper im Inneren, zu finden.

Zur Gewinnung der Fasern entfernt man zunächst die Blätter, anschließend schabt man die Oberhaut der Stengel mit einer scharfen Klinge ab. Nachdem die Stengel ein paar Tage getrocknet wurden, legt man sie auf einen flachen Boden und tritt sie flach, damit sie der Länge nach auseinanderbrechen.

Diese länglichen Streifen nimmt man so in die Hand, daß sie wenige Zentimeter über die Hand hinausragen und ihre Innenseite nach vorne schaut. Der holzige Teil wird vorsichtig nach außen gebrochen, ohne dabei die Rinde zu beschädigen. Das abgebrochene holzige Stück wird nach oben abgezogen, anschließend kann man die freigelegten Fasern ein Stück nach unten ziehen. Danach wiederholt man diese Arbeitsschritte, bis alle Fasern freiliegen.


Tierische Fasern konnten aus Wolle und Haaren sowie aus getrockneten Gedärmen und Sehnen von Tieren gewonnen werden. Wolle hat gegenüber den Haaren den Vorteil, daß sie weicher und feiner ist und sich die Wollfasern auf Grund ihres Aufbaus besser ineinander verhängen. Haare müssen erst mit Harz behandelt werden, damit sie sich besser verbinden und nicht mehr auseinanderfallen.

Zu Ötzls Zeit waren die wohl gebräuchlichsten tierischen Fasern jene aus Tiersehnen. Die längsten Fasern findet man in der Achillessehne und am Rücken des Tieres.

Zerlegt man die Sehne im frischen Zustand in Fäden, können diese sofort verwendet werden. Hat man die Sehne selbst, z.B. aus Gründen der Aufbewahrung, getrocknet, muß sie mit einem Holzstück oder einem flachen Stein vorsichtig zerklopft werden, damit sich die Fasern aus dem Faserverbund der Sehne lösen können.


Diese tierischen und pflanzlichen Fasern können nun zu Garnen, Fäden usw. weiterverarbeitet werden. Als ersten Schritt sollte man noch die Fasern zwischen Daumen und Zeigefinger reiben. Dadurch können nicht nur Reste von Verbundstoffen entfernt werden, die Fasern selbst werden weicher und flexibler und ihre Oberflächen rauhen etwas auf, sodaß die Fasern besser ineinander greifen.


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