I 1. Mai 1916 ENTFÜHRT!
Ich saß in der Führergondel von L 100 und betrachtete
wohlgefällig das üppige Sektfrühstück, das Korvettenkapitän
Heinsius hatte auffahren lassen.
»Eine
kleine Stärkung, Herr Hatch?«
Genau
die brauchte ich jetzt. Stolz wie Oskar hatte Kapitän Heinsius mich
durch sein Luftschiff geführt. Er hatte mir die Gaszellen gezeigt,
das Aluminium-Skelett, die Hülle, die acht Maybach-Motoren in ihren
vier Gondeln, die Brücke, die winzigen Kabinen, er hatte mich mit
Fakten und Zahlen bombardiert, mit Reichweiten und Pferdestärken,
bis mir der Kopf brummte und die Füße wehtaten.
»Jetzt,
wo Sie alles gesehen haben, Herr Hatch – wie finden Sie unser neuartiges
Luftschiff L 100?«
»Sehr
beeindruckend, Kapitän.«
»Damit
sind wir unseren Gegnern um Jahre voraus!«
»Und
das zeigen Sie mir so einfach, einem Ausländer und, noch schlimmer,
einem Journalisten?«
Kapitän
Heinsius runzelte die Stirn. »Nicht meine Entscheidung, Herr Hatch. Seine
Majestät haben es befohlen, höchstpersönlich.«
Aha.
Ich kannte Kaiser Wilhelm II., und der Kaiser kannte mich. Zweimal hatten
wir uns getroffen: 1904 auf Norderney und vor vier Jahren auf Korfu.
Ein
Sektkorken knallte. Eine Ordonnanz goß ein.
Heinsius
erhob sein Glas. »Auf die zu erwartenden gewaltigen Erfolge des modernsten
und größten Luftschiffs der Welt! – Sie trinken nicht
mit, Herr Hatch?«
Ich
schüttelte den Kopf und stellte mein Sektglas ab. »Auf deutsche Erfolge
kann ich nicht trinken, tut mir leid«, sagte ich. »Als Amerikaner bin
ich in Ihrem Krieg strikt neutral.«
Wieder
runzelte Heinsius die Stirn. Dann sprang er auf und knallte die Hacken
zusammen. »Auf Seine Majestät, unseren Kaiser und König Wilhelm
II.! Auf unseren Herrscher und Ihren Fürsprecher!«
»Warum
nicht? Auf den Kaiser! Hoch soll er leben!«
Ich
nahm einen kräftigen Schluck – noch einen – und ließ
das Glas fallen. Mir wurde schwarz vor Augen. Wie vom Blitz getroffen
brach ich zusammen und stürzte in einen Abgrund, einen finsteren
bodenlosen Abgrund...
Ich
fiel und fiel – und während ich fiel, tauchten aus der schwarzen
Finsternis um mich schreckliche, grauenerregende Bilder auf: eine kahle
graue Landschaft unter grauem Himmel, verkohlte Baumstümpfe, in denen
Uniform- und Fleischfetzen hingen, schlammige Krater voller aufgeblähter
Leichen, monströse Ratten, die sich überfressen hatten. Und
mit den Bildern kamen die Geräusche: das unerträgliche Trommelfeuer
tausender Kanonen und das entsetzliche Schreien der Verwundeten im Niemandsland.
Alles, was ich vor wenigen Tagen an der Westfront, vor Verdun, erlebt
hatte, war wieder da – ein Albtraum, den ich vergessen wollte und
nicht vergessen konnte...
***
Vor
anderthalb Jahren, im Herbst 1914, war ich aus New York nach Europa gekommen,
um über den Krieg zu berichten – für das Weltblatt der
Weltstadt, den »Daily New Yorker«. Ich ging nicht, wie die meisten meiner
Kollegen, nach England oder Frankreich, ich ging nach Deutschland, wo
mir wegen meines Drahts zum Kaiser alle Türen offenstanden. Ich sah
mich um, an der Front, im Hinterland, ich schrieb auf, was ich sah, ich
machte mir Gedanken. Ich war immer gern Journalist gewesen, aber allmählich
vergingen mir die Freude am Beruf und die Lebensfreude. Zigarren und Whisky
schmeckten nicht mehr. Nicht daß es damals in Deutschland Whisky
gab und schon gar nicht echten Single-Malt-Scotch. Stattdessen mußte
sich der Mensch mit Schnaps aus Korn und Kartoffeln behelfen – kein
Ersatz, glauben Sie mir.
Die
unbeschreibliche Schlächterei vor Verdun, die unmenschliche Kalkulation
der Generäle, die ihre Siegesfahnen auf ungeheuren Leichenbergen
hissen wollten – mir reichte es, ich hatte genug und wollte so schnell
wie möglich zurück nach Amerika. Außerdem war mir nach
dem Lusitania-Zwischenfall 1915 klar, daß auch mein Land bald in
den Krieg gegen Deutschland eintreten würde. Insofern war es angezeigt,
vorher zu verschwinden.
Meine
Vorbereitungen zur Rückkehr waren fast abgeschlossen – da kriegte
ich vor ein paar Tagen eine unerwartete Einladung aus dem Kriegsministerium.
Als einziger nichtdeutscher Journalist sollte ich die neue deutsche Wunderwaffe
besichtigen dürfen, ein hochmodernes Luftschiff.
»Sehr
geehrter Herr!« las ich. »Der Große Generalstab des Deutschen Reiches
gibt sich die Ehre, Sie zu einer Besichtigung etc. etc. einzuladen. Finden
Sie sich am l. Mai pünktlich um neun Uhr am Tor der Luftschiffwerke
Staaken ein. Geplant ist eine Besichtigung bis etwa dreizehn Uhr, anschließend
Sektfrühstück. Mit vorzüglicher Hochachtung...«
So
einen Knüller mußte ich natürlich noch mitnehmen. Ein
halber Tag, dachte ich, eine Stippvisite, und fuhr nach Staaken.
Den
Rest kennen Sie. Geführt von Korvettenkapitän Heinsius sah ich
mir den Koloß an, war gebührend beeindruckt von der Größe,
der enormen Reichweite, der gewaltigen Nutzlast von Waffen und Bomben,
trank in der Offiziersmesse der Führergondel ein Glas Sekt... und
stürzte in einen grauenvollen Albtraum...
***
Doch
jetzt schien ich wieder zu mir zu kommen. Die Dunkelheit hellte sich auf,
die Horrorbilder verschwanden und mit ihnen die Geräusche –
bis auf ein seltsames Brummen, leise, aber durchdringend, das den Boden
unter mir vibrieren ließ. Was war das?
»Herr
Hatch! Herr Hatch, sind Sie wach?«
War
ich wach? Das blieb abzuwarten.
Eine
grobe Hand packte mich an der Schulter und schüttelte mich. »Wachen
Sie auf, Herr Hatch!«
Ich
öffnete die Augen. Die Hand gehörte offensichtlich Kapitän
Heinsius. »Was ist passiert?« fragte ich. »Wo bin ich?«
»An
Bord von L 100 – wo sonst?«
»Und
was brummt und vibriert hier so?«
Heinsius
lachte. »Die Motoren natürlich. Wir fahren!«
»Fahren?«
»Sehen
Sie aus dem Bullauge, Herr Hatch!«
Ich
lag, nicht sehr bequem, auf drei zusammengeschobenen Stühlen in der
Messe. Mühsam kam ich hoch – ein in Ehren ergrauter Fünfziger
ist kein Leistungssportler – und warf einen Blick aus dem nächsten
Bullauge. Weiße Wolken zogen schnell über den blauen Himmel
– darunter lag eine Art Spielzeugland mit winzigen Häusern,
Feldern und Straßen. Ich kniff die Augen zu, machte sie wieder auf:
Das Bild vor dem Bullauge blieb.
»Wir
fliegen!«
»Nicht
doch, Herr Hatch. Ein Luftschiff fliegt nicht, ein Luftschiff fährt.«
»Wenn
Sie das sagen, Kapitän... Und wieso halte ich mich in Ihrem fahrenden
Luftschiff auf?«
»Das
werden Ihnen diese beiden Herren verraten.« Er machte eine Armbewegung
nach hinten. »Mich entschuldigen Sie freundlichst. Der Kapitän gehört
auf die Brücke.«
Die
Tür klappte. Weg war er.
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© 2009 Michael Koser |
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