II 1. Mai 1916 GEHEIME MISSION
Ich drehte den Kopf – und da standen sie, die erwähnten
beiden Herren. Der erste, der mit ausgestreckter rechter Hand auf mich
zukam, trug einen altmodischen Gehrock und blinzelte mich durch einen
goldenen Kneifer über einem grauen Rauschebart freundlich an. Den
kannte ich doch!
»Professor
Hinkeldey?«
»Idem,
Herr Hatch. Ich bin erfreut, daß Sie mich nicht vergessen haben,
trotz der langen Zeit, die seit unserem letzten Zusammentreffen verflossen
ist. Wann war es? 1904?«
September
1904, in Athen – und einige Tage vorher im Orient-Expreß,
wo wir gemeinsam ein höchst seltsames Menü im Speisewagen zu
uns nehmen mußten: Professor van Dusen, meine Wenigkeit und Professor
Hinkeldey nebst Gemahlin.
»Wie
geht's der werten Gattin, lieber Professor? Immer noch so schreckhaft?«
»Leider
ja, Herr Hatch, danke der Nachfrage. Ansonsten ist sie in geradezu prächtiger
Verfassung. Sie befindet sich zu Hause, in Heidelberg, und strickt Socken
für unsere braven Feldgrauen in den Schützengräben.«
Der
zweite Mann räusperte sich ostentativ und trat einen Schritt vor.
Ich zuckte zusammen. Dieses rote Gesicht, die Glatze, das Monokel, das
mich grimmig anfunkelte – alles das war mir zu gut bekannt.
»Darf
ich vorstellen?« begann Hinkeldey.
Ich
unterbrach ihn: »Nicht nötig. Ich kenne Dr. Grunzbach, bedauerlicherweise.
Wie läuft's denn so, Doktor? Immer noch fleißig beim Schnüffeln
und Foltern?«
Der
Chef des deutschen Geheimdiensts grunzte nur verächtlich.
»Ich
werde nie vergessen, wie Sie mir damals in Tanger das Wahrheitsserum eingetrichtert
haben«, sagte ich.
»Mein
Gott!« knurrte Grunzbach. »Das bringt der Beruf so mit sich.«
»Immer
wenn wir uns treffen, geht's mir schlecht. Vor elf Jahren verschärftes
Verhör – und jetzt haben Sie mich, wie es scheint, gekidnappt!«
»Machen
Sie's halblang, Herr Hatch. Nach so einer Tour wie dieser würden
sich Ihre Kollegen alle Finger lecken.«
Ich
sah aus dem Bullauge. Unten zogen Hügel vorbei und eine kleine Stadt:
pittoreske Häuser, eine Kirche mit Zwiebelturm. Böhmen? Bayern?
»Wo
fliegen – Verzeihung: fahren – wir überhaupt hin?«
Hinkeldey
und Grunzbach sahen sich an und antworteten dann im Chor: »Nach Afghanistan!«
Afghanistan!
Ich hätte mich glatt hingesetzt, wenn ich nicht schon gesessen hätte.
Blaß wurde ich offenbar auch, denn Professor Hinkeldey sah mich
mitleidig an: »Etwas zu trinken, Herr Hatch?«
Ich
schüttelte mich. »Lieber nicht. Ihr Sekt vorhin ist mir gar nicht
gut bekommen.«
»Ein
harmloses Beruhigungsmittel«, knurrte Grunzbach. »Nicht der Rede wert.
Aber wie Sie wollen, Herr Hatch. Ist mir doch total schnurz, ob Sie was
trinken oder nicht. Hauptsache, Sie sperren Ihre Löffel auf und hören
uns zu.«
Und
nun klärten mich die beiden auf, mit verteilten Rollen. Der Professor
berichtete ausführlich und mit durchaus freundlichem Unterton, während
Grunzbach ab und zu knapp und grob dazwischenknurrte. Das erwies sich
als durchaus angebracht. Professor Hinkeldey hatte nämlich die zweifellos
auf dem Katheder erworbene Neigung, weit auszuholen und immer wieder abzuschweifen.
So
ging es gleich los. Hinkeldey stellte sich in pädagogische Positur
und begann: »Ohne Frage ist Ihnen das islamische Konzept des Dschihad,
des heiligen Krieges, bekannt, Herr Hatch.«
»Vage«,
sagte ich. Aber bevor der Professor meiner Halbbildung ausführlichst
aufhelfen konnte, ging Grunzbach dazwischen.
»Lassen
Sie mal Allah in der Moschee!« knurrte er. »Ich sag nur: Türkei!«
Ich
nickte. »Ihr Verbündeter.«
Jetzt
war wieder Hinkeldey dran: »Der türkische Sultan hat sich zum Kalifen
erklärt, zum Beherrscher aller Gläubigen, und hat als solcher
den heiligen Krieg gegen England ausgerufen.«
Das
wußte ich längst. Aber was jetzt kam, war mir neu.
»Wenn
es uns gelingt, den heiligen Krieg bis nach Indien zu tragen, käme
England in ernste Schwierigkeiten.«
Das
verstand sich. Indien war die größte und wichtigste Kolonie
des britischen Weltreichs.
»Und
wie wollen Sie das anstellen?«
»Na,
wie wohl?« Das war Grunzbach. »Afghanistan!«
Afghanistan!
Schon wieder!
Hinkeldey
führte aus: »Geostrategisch stellt Afghanistan eine permanente Bedrohung
Indiens dar. Emir Habibullah hat sich bisher um Neutralität bemüht.
Wenn es uns und unserem türkischen Alliierten gelingt, ihn auf unsere
Seite zu ziehen und ihn dazu zu bringen, mit seinen wilden, kriegerischen
Bergvölkern über den Khyber-Paß nach Indien einzufallen –«
»–
bricht dort ein antibritischer Aufstand aus!« fiel Grunzbach ein. »England
zieht seine Truppen aus Europa ab, wir schlagen Frankreich und gewinnen
den Krieg!«
Seine
schweißgetränkte Glatze glänzte, sein Monokel schleuderte
Blitze – gleich würde er anfangen, »Deutschland, Deutschland
über alles« zu schmettern, mit Hinkeldey als zweiter Stimme. Aber
weil das Luftschiff gerade heftig wackelte – der Wind nahm offenbar
zu – , beruhigten sich die beiden Patrioten wieder. Sie atmeten durch
und fuhren in ihrem Vortrag fort.
»Schon
vor einem Jahr haben wir eine diplomatische Mission nach Afghanistan geschickt.
Angekommen ist sie erst vor ein paar Monaten, weil sie sich durch ganze
Horden britischer Agenten in Persien durchschlagen mußte.«
»Und?
Was kam dabei raus?« fragte ich.
»Nix!«
knurrte Grunzbach. »Emir hat Schiß, will England nicht verärgern.
Also ziehen wir andere Saiten auf!«
»Soll
heißen, Herr Hatch«, sagte Hinkeldey, »wir schicken die ›Orient‹
nach Afghanistan.«
»Orient?«
»Dieses
Luftschiff. L 100. Meine Gattin hat es auf den Namen ›Orient‹ getauft,
mit einer Magnumflasche vaterländischen Sektes. Eine durchaus treffende
Benennung angesichts der dem Vehikel anvertrauten Mission.«
»Und
diese Mission besteht worin?«
»Nach
Afghanistan fahren. Emir beeindrucken. Deutsche Technik, deutsche Stärke.
Emir schließt Bündnisvertrag mit uns und greift Indien an.«
»Die
›Orient‹«, erklärte der Professor, »verfügt über eine größere
Reichweite als alle unsere Luftschiffe bisher. Des weiteren bietet sie
dank ihrer Größe die Möglichkeit, Lasten von erheblichem
Gewicht zu transportieren. Wir führen Waffen an Bord –«
»Maschinengewehre!«
bellte Grunzbach. »Bomben! Gasgranaten!«
»–
ferner eine größere Menge Gold, eine Druckerpresse zur Herstellung
von Flugblättern und einen kinematographischen Projektor mit Filmen
über unsere militärischen Erfolge, über die kaiserliche
Familie und mit einer persönlichen Botschaft Seiner Majestät
an Emir Habibullah.«
»Na,
wenn ihn das nicht beeindruckt, dann weiß ich nicht«, sagte ich.
»Nicht
wahr, Herr Hatch? Da es sich selbstredend um eine geheime Mission handelt,
wurde ihre Leitung Dr. Grunzbach vom Geheimdienst übertragen. Ich
selbst fungiere als fachlicher Berater, bin ich doch nicht nur Archäologe,
sondern auch Orientologe und Indologe. Ich spreche fließend Arabisch,
Persisch, Sanskrit, Hindi, Urdu, Pushtu nebst einigen weiteren indischen
Sprachen und Dialekten.«
»Respekt,
Herr Professor. Soweit, so gut. Aber was mir nicht klar ist: Wie bin ich,
Hutchinson Hatch, Bürger der USA und Journalist, in Ihre Geheimmission
geraten? Warum wollen Sie ausgerechnet mich mitnehmen?«
»Kaiserlicher
Befehl!« knurrte Grunzbach. »Nicht meine Idee, können Sie mir glauben!«
»Seine
Majestät waren der Ansicht, eine neutrale Persönlichkeit von
Ihrem Ruf, Herr Hatch, sei am besten geeignet, die Welt, auch die unserem
Reich feindlich gesinnte, von der deutschen Überlegenheit zu überzeugen.«
»Kaiserliche
Majestät haben hohe Meinung von Ihnen, Herr Hatch. Versteh nicht,
warum.« Grunzbach sah mich finster an.
Ȇbrigens,
das Konzept, die afghanischen Eingeborenen mit einem fliegenden Teppich
in Ehrfurcht und Schrecken zu versetzen, stammt ja gewissermaßen
von Ihnen oder besser, von Ihrem Freund und Meister, Professor van Dusen.
Ehre seinem Andenken!«
Im
Grabe wird er sich umdrehen, der große Mann, dachte ich. Und was
war mit mir? »Wenn ich nun auf die Ehre, die Ihr Kaiser mir zugedacht
hat, keinen Wert lege«, fragte ich, »lassen Sie mich dann aussteigen?«
»Zu
spät, Herr Hatch. Wir befinden uns bereits über Österreich.«
Hinkeldey lächelte.
Grunzbach
guckte weiter grimmig. »Von mir aus, steigen Sie aus, Herr Hatch! Sie
brauchen nur das Bullauge zu öffnen und rauszuspringen!« Er lachte
höhnisch.
Plötzlich
hörte ich in mir eine vertraute Stimme:
Mein lieber Hatch, machen
Sie das Beste aus der gegebenen Situation und warten Sie ab.
Wie
Sie meinen, Professor.
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© 2009 Michael Koser |
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