III 1. Mai 1916 L 100
Das komische Duo Hinkeldey und Grunzbach verabschiedete
sich und ließ mich in Gedanken zurück. Viel Zeit zum Überlegen
hatte ich allerdings nicht. Ein vollbärtiges Individuum in Marineuniform
kam durch die Tür und schlug die Hacken zusammen.
»Gestatten?
Leutnant von Prillwitz, Zwo WO.«
Ich
sah ihn fragend an. Zwo WO?
»Zweiter
Wachoffizier. Zu Ihrer Verfügung, Herr Hatch. Raucher?«
»Ich
muß es gestehen.«
»In
diesem Fall darf ich um Zigarren und Streichhölzer bitten.«
»Warum
das denn?«
»Wasserstoffgas,
Herr Hatch. Extrem feuergefährlich. Wir haben ungefähr achtzigtausend
Kubikmeter an Bord.« Er zeigte nach oben. »In der Hülle, in fünfundzwanzig
Gaszellen. Rauchen allerstrengstens verboten!«
Wie
oft habe ich es Ihnen gesagt, mein lieber Hatch: Tabakrauchen ist eine
Sucht, eines bewußt lebenden Menschen unwürdig, und darüber
hinaus extrem gesundheitsschädlich? Wie oft?
So
rund fünftausend Mal, Professor, wenn nicht mehr.
Und?
Haben meine Exhortationen gefruchtet?
Eher
weniger, Professor.
Wer
nicht hören will, muß fühlen. Jetzt sind Sie gezwungen,
sich das Rauchen abzugewöhnen, mein lieber Hatch.
Und
nicht nur das Rauchen – auch das Waschen, wie ich hörte.
»Bedaure,
Herr Hatch. Wasservorrat an Bord ist begrenzt. Nur Katzenwäsche,
wenn überhaupt.«
»So.
Und Rasieren?«
»Kommt
nicht in die Tüte, Herr Hatch. Lassen Sie's wachsen. Der Bart ist
des Mannes Zierde.«
»Sieht
man an Ihnen, Leutnant.«
Von
Prillwitz öffnete die Tür. »Kommen Sie mit, Herr Hatch!«
»Wohin?«
»In
Ihre Kabine.«
Ich
stand auf. Als ich meine Füße auf den Boden setzte, fiel mir
was auf. »Meine Schuhe! Wo sind meine Schuhe?«
»Konfisziert,
Herr Hatch. Feuergefahr durch Eisennägel. Sie tragen Filzpuschen,
wie wir alle.«
»Formschön
und mollig.« Ich zuckte die Achseln. »Lead on, Macduff!«
***
Leutnant
von Prillwitz blieb stehen und öffnete eine schmale Tür auf
der rechten Seite des Mittelgangs. »Ihre Kabine, Herr Hatch!«
Neugierig
warf ich einen Blick rein. »Gut, daß Sie's sagen, Leutnant. Ich
hätte das da eher für die Hütte des Bordhunds gehalten.«
»Haben
Sie das Adlon erwartet, Herr Hatch?«
Nein,
und das Waldorf Astoria auch nicht. Aber ein bißchen mehr als das,
was ich hinter der Tür sah, hätte es schon sein dürfen:
ein Schlauch, anderthalb Meter breit, zweieinhalb tief, zum größten
Teil von einer Pritsche eingenommen. Durch ein enges Bullauge fiel spärliches
Licht. Auf der Pritsche lagen warme Sachen: Jacke, gefütterte Hosen,
Pelzmütze.
»Fahren
wir zum Nordpol? Ich denke, unser Ziel ist Afghanistan, und soweit ich
weiß, ist es da heiß.«
»Wenn
wir über Persien sind – voraussichtlich übermorgen – ,
müssen wir höher gehen, wegen der englischen Flugzeuge. Und
in vier- bis fünftausend Metern ist es sehr, sehr kalt, das kann
ich Ihnen versichern.«
Ich
setzte mich auf die Pritsche. Wenn ich die Knie anzog, hätte ich
tatsächlich die Tür zumachen können, wäre nicht Leutnant
von Prillwitz im Weg gewesen.
»Müde,
Herr Hatch?«
»Ein
bißchen.«
»Ruhen
Sie sich aus. Abendessen für Offiziere und Gäste um sieben.«
Er
legte die Hand an die Mütze und verzog sich. Ich streckte mich auf
der Pritsche aus. Schlafen konnte ich allerdings nicht – alles,
was ich heute erlebt, gehört und gesehen hatte, hielt mich wach.
***
An
dieser Stelle, meine Damen und Herren, sollte ich Ihnen das Luftschiff
L 100 kurz beschreiben, damit Sie die Ereignisse der nächsten Tage
richtig verstehen und korrekt orten können. Denn alles, was Sie bisher
von mir erfahren haben, ist lediglich der Auftakt, die Ouvertüre,
wenn Sie so wollen. Die eigentliche Oper folgt noch, und die hat es in
sich, das kann ich Ihnen sagen: mysteriöse Morde in Mengen, Lügen,
Intrigen, Maskeraden, Abenteuer. Spione und Agenten werden auftreten,
wilde Wüstenreiter –
Mein
lieber Hatch, wieder einmal geben Sie Ihrer beklagenswerten Neigung zum
Abschweifen und Ausschmücken nach. Bleiben Sie gefälligst bei
der Sache!
Wird
gemacht, Professor. Also dann – Luftschiff L 100. Fangen wir mit
der Führergondel an, weil ich mich dort gerade aufhalte und weil
sie natürlich der wichtigste Teil des ganzen großen Flugapparates
ist.
Vorn
in der Gondel – im Bug, wie wir See- und Luftschiffer sagen –
befindet sich der Kommandostand, die Brücke, mit zwei Steuerrädern,
für die Höhen- und die Seitensteuerung. Von hier hält der
Kapitän oder der wachhabende Offizier über Telephon und Maschinentelegraph
Verbindung zu allen anderen Teilen des Luftschiffs. Hinter der Brücke
liegen der Funkraum und der Kartenraum, wo der Obersteuermann den Kurs
ausarbeitet. Dann die Messe, der Aufenthalts- und Speiseraum für
Offiziere, den ich nur zu gut kannte. Darauf folgt ein enger Korridor,
rechts und links je vier Türen, dahinter insgesamt acht Kabinen.
Eine davon war meine – und zu wem gehörten die restlichen sieben?
Das hatte ich Leutnant von Prillwitz gefragt, als er mich durch den Korridor
führte.
»Rechts
von Ihnen schläft der Obersteuermann. Aber der hält sich die
meiste Zeit im Kartenraum auf.«
»Und
mein linker Nachbar?«
»Dr.
Grunzbach.«
»Oh
je. Hoffentlich schnarcht er nicht.«
Die
vierte Kabine rechts war die von Kapitän Heinsius. Ihm gegenüber
wohnte der erste Wachoffizier, Oberleutnant Müller. Daneben mein
freundlicher Führer – und neben dem, wer steckte da?
»Zur
Zeit noch niemand, Herr Hatch. Aber wir erwarten noch zwei Gäste.
Bei unserem Zwischenstopp werden sie zusteigen.«
»Wir
machen einen Zwischenstopp?«
»Jawohl,
Herr Hatch. Morgen. Im Luftschiffhafen Jamboli. Bulgarien. Einer der Gäste
kriegt die leere Kabine Ihnen direkt gegenüber, und für den
anderen muß ich meine Kabine räumen.«
»Also
wichtige Personen, wie es scheint. Um wen handelt es sich?«
»Bedaure,
Herr Hatch. Meine Lippen sind versiegelt. Fragen Sie Dr. Grunzbach oder
Professor Hinkeldey.«
Auf
die Kabinen folgte der Waschraum mit Toilette – letztere nicht viel
mehr als ein Loch im Boden – und die Kombüse, die eigentlich
nur eine Speisekammer war, weil wegen der Feuergefahr nicht gekocht werden
durfte. Auch die Bordapotheke war hier zu finden. Am Ende der Gondel,
im Heck, gab es einen verschlossenen Lagerraum. Darin –
»Goldbarren,
Herr Hatch!« hatte Prillwitz mir ins Ohr geflüstert. »Deshalb steht
auch jederzeit ein bewaffneter Posten im Korridor.«
Soweit
die Führergondel von L 100, meine Damen und Herren. Sollte Ihnen
trotz meiner präzisen Ausführungen irgendwas nicht klar sein,
schauen Sie auf den Plan, den ich eigenhändig gezeichnet und beigelegt
habe.
Durch
eine eiserne Leiter in einem kurzen Schacht, der in der Decke der Brücke
begann, war die Führergondel mit dem eigentlichen Luftschiff verbunden.
Dieses bestand aus einem Aluminium-Skelett, das von einer Hülle aus
imprägniertem, schwarz gestrichenem Baumwollstoff überzogen
war.
Durch
die gesamte Länge des Schiffs, immerhin fast dreihundert Meter, verlief
ein Gang aus Aluminiumstreben. Hier schliefen die Mannschaft und, wegen
der außergewöhnlichen Passagiere, auch ein paar Offiziere,
Prillwitz und der Ingenieur, der zu meinen Gunsten auf seine Kabine verzichten
mußte – hier stapelten sich die Lasten, die L 100 transportierte:
in gewaltigen Aluminium-Behältern Benzin und Schmieröl für
die acht Maybach-Motoren in ihren vier Motorgondeln unter dem Heck, dazu
Wasser, Lebensmittel und natürlich alles das, was für die geheime
Mission des Luftschiffs benötigt wurde – Maschinengewehre,
Bomben, Granaten und so weiter.
Durch
die Hülle, vorbei an den Gaszellen zogen sich weitere Verbindungsgänge
und Schächte zu den einzelnen Motorgondeln und zum MG-Posten über
dem Bug. Schußbereite Maschinengewehre standen auch auf der Brücke
und in den Motorgondeln.
***
Die
Dämmerung setzte ein, und in der Messe wurde zum Abendessen geläutet.
Das Menü war natürlich kalt und bestand aus pappigem Graubrot
mit Dauerwurst. Runtergespült wurde es mit Wasser oder dünnem
Bier. Nicht gerade eine gastronomische Offenbarung.
Wie
ich bemerke, sind Sie noch immer weit über Gebühr auf die Nahrungsaufnahme
fixiert, mein lieber Hatch. Äußerst bedauerlich!
Was
wollen Sie, Professor? Wir können nicht alle von Luft und Kriminologie
leben.
Während
des üppigen Mahles fragte ich meinen Tischnachbarn, Professor Hinkeldey,
nach den zwei Gästen, die morgen in Bulgarien zusteigen sollten.
Hinkeldey sah fragend auf Grunzbach, der kurz und unfreundlich nickte,
und rückte dann näher an mich heran.
»Ist
Ihnen der Name Har Dayal bekannt, Herr Hatch?« fragte er leise.
Har
Dayal? Bei mir klingelte was. »Meinen Sie den indischen Rebellen, der
ständig gegen die Herrschaft der Briten agitiert? Indien den Indern
und so?«
»Eben
diesen – auch wenn wir es vorziehen, ihn als Freiheitskämpfer
und Patrioten zu bezeichnen. Aus dem unmenschlichen Gefangenenlager auf
den Andamanen, wo ihn die Engländer festgehalten haben, ist er geflohen
und nach langer Irrfahrt in die Türkei gekommen. Er wird uns nach
Indien begleiten und dort durch seine Argumente und seinen im ganzen Land
bekannten Namen mithelfen, den großen antienglischen Aufstand zu
entfesseln.«
»Geschickter
Schachzug, Professor. Und wer ist Gast Nummer zwei?«
»Als
Folge der Gefangenschaft ist Har Dayal schwerkrank. Daher wird er von
einem Arzt begleitet, einem Gesinnungsgenossen, der ihn bereits in Indien
behandelt hat – ein Portugiese aus Goa namens Pereira.« Professor
Hinkeldey wurde noch leiser. »Unter uns, Herr Hatch, ich freue mich sehr
auf die Neuankömmlinge, vor allem auf Dayal. Nichts gegen Sie oder
Dr. Grunzbach als Gesprächspartner. Doch mit dem Inder kann ich doch
endlich wieder mal Hindi sprechen, ich kann mit ihm zusammen Pläne
schmieden, Flugblätter entwerfen, die unser Luftschiff über
Indien abwerfen wird, ich kann endlich etwas tun, für mein Land,
für den Endsieg!«
Er
ereiferte sich, seine Augen hinter dem Kneifer funkelten – der arme
Kerl hatte ja keine Ahnung, was ihm bevorstand.
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© 2009 Michael Koser |
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