IV 2. Mai 1916 JAMBOLI
Die Nacht war eher durchwachsen, was nicht nur an der harten
Pritsche lag, sondern auch an der Wackelei des Luftschiffs und dem ständigen
Motorengeräusch. Nach dem frühen Aufwachen blieb ich erst einmal
liegen und machte mir Gedanken. Ich versuchte, die Lage, in der ich mich
befand, nüchtern einzuschätzen, und fragte mich: Was soll ich
tun? Was kann ich tun?
Ich
nehme kaum an, daß Sie das Luftschiff während der Fahrt zu
verlassen wünschen, mein lieber Hatch.
Bin
ich lebensmüde, Professor?
Also
ergeben Sie sich für den Augenblick in Ihr Schicksal. Halten Sie
die Augen offen, beobachten Sie, ziehen Sie Schlüsse – und
üben Sie sich in Geduld.
Wird
mir nichts anderes übrigbleiben, Professor.
Ungewaschen
und unrasiert ging's in die Messe. Das Frühstück sah dem Abendessen
ausgesprochen ähnlich, nur daß statt Bier dünner kalter
Kaffee serviert wurde. Danach lud Kapitän Heinsius mich auf die Brücke
ein.
L
100 zog ruhig seine Bahn. Durch die großen Fenster sah ich nach
unten, auf die Pußta und das transsilvanische Bergland. Erinnerungen
an unseren Aufenthalt in dieser Region vor fast zwölf Jahren wurden
wach, vor allem an das denkwürdige Zusammentreffen von Professor
van Dusen mit dem Grafen Dracula.
Gegen
halb elf kam der Obersteuermann aus dem Kartenraum auf die Brücke:
»Melde gehorsamst, Herr Kapitän – Jamboli direkt voraus.«
»Danke,
Obersteuermann. Wind?«
»Minimal
Südost. Praktisch windstill.«
»Ausgezeichnet.«
Kapitän Heinsius griff zum Telephon. »Fertigmachen zur Landung! Alle
Motoren halbe Kraft voraus!«
Dann
wandte er sich mir zu. »In Ihre Kabine, Herr Hatch! Und bleiben Sie dort.
Der Posten im Gang hat Anweisung, Sie am Verlassen der Kabine zu hindern,
notfalls mit Waffengewalt.«
Ich
war nicht Gast an Bord, ich war Gefangener. Das hatte ich zeitweilig fast
vergessen.
***
Das
Dröhnen der Motoren nahm immer mehr ab – das Luftschiff verlangsamte
die Fahrt, bis es in der Luft fast stehenblieb. Ich spähte durchs
kleine Bullauge. Geschätzte hundert Meter unter mir sah ich eine
große Halle, diverse kleinere Gebäude und, etwas entfernt,
einen hohen Funkmast.
Vor
allem sah ich Menschen. Einige hundert. Deutsche Marinesoldaten in dunkelblauen
Uniformen und Hilfsarbeiter, vermutlich Bulgaren, in Räuberzivil.
Sie trugen lange Stangen und sahen erwartungsvoll zu uns hoch.
Plötzlich
über mir ein scharfes Zischen, dann rauschte ein heftiger Wasserfall
am Bullauge vorbei. Wir ließen Ballast ab, um das Luftschiff auszutrimmen.
Dann kippte die Kabine jäh nach vorn – L 100 sank weiter, mit
dem Bug, der Führergondel, voran. Die Menschen unten sprangen hoch
nach den Seilen, die von der Brücke heruntergelassen wurden, und
zogen uns daran tiefer, bis sie mit den Haken an ihren Stangen die Führergondel
zu fassen kriegten, noch etwas tiefer zogen und dann festhielten. Der
Aufprall auf dem Boden war so stark, daß ich lang hingeschlagen
wäre, hätte ich nicht sowieso schon auf meiner Pritsche gelegen.
Wir waren in Jamboli, dem deutschen Luftstützpunkt in Bulgarien,
gelandet.
Ich
hätte mir sehr gerne mal die Beine auf festem Erdboden vertreten,
aber das war nicht drin. Als ich die Tür zum Korridor öffnete,
scheuchte mich der Posten sofort zurück.
Also
spielte ich weiter den Fenstergucker. Viel war nicht zu sehen. Ein paar
Bulgaren schleppten Kartons zur Brücke. Frischer Proviant, hoffte
ich, aber es konnte sich ebensogut um Munition oder Formulare handeln.
Danach
passierte nichts mehr. Das Bodenpersonal verzog sich wegen der brennenden
Mittagssonne in den Schatten der Gebäude – die Luft flirrte
vor Hitze – ich wurde schläfrig... und muß tatsächlich
eingeschlafen sein.
Irgendwann
rissen mich laute Stimmen aus einem Traum, in dem ich mit Professor van
Dusen durch die Schluchten des Balkan ritt, verfolgt von der Schwarzen
Garde Kravoniens. Professor Hinkeldey war auch dabei gewesen – und
er war noch immer da. Unter meinem Bullauge, das ich geöffnet hatte,
um frische Luft in die Kabine zu lassen, stand er und redete mit Dr. Grunzbach.
Soll heißen, Hinkeldey redete und Grunzbach brüllte, wobei
er immer mal wieder kräftig mit der Faust gegen die Wand der Gondel
schlug:
»Verdammte
Unzucht! Jetzt ist es schon vier Uhr durch und weit und breit nix zu sehen
von Ihren gottverfluchten Indern, Hinkeldey! Ich hätte nie meine
Erlaubnis zu Ihrem schwachsinnigen Plan geben dürfen, sie erst hier
und nicht schon in Staaken zusteigen zu lassen! Jetzt stehen wir hier
wie Pik Sieben und warten! Himmel, Arsch und Wolkenbruch!«
»Beruhigen
Sie sich, Herr Grunzbach, ich bitte Sie! Sie wissen doch wie ich, daß
Har Dayal erst vor kurzem in der Türkei eingetroffen ist, und von
Konstantinopel ist es halt viel näher nach Jamboli als nach Berlin.«
Dr.
Grunzbach knurrte nur und kratzte sich die Glatze. Plötzlich hob
er den Kopf und sah nach Norden, von wo sich ein Staubwirbel näherte.
Motorengeräusch eines Automobils wurde lauter.
»Sind
sie das?« fragte Hinkeldey aufgeregt und putzte seinen Kneifer. Grunzbach
knurrte wieder.
»Sie
sind es!« Hinkeldey lief dem Automobil entgegen, einem Puch Alpenwagen,
der eine elegante Kurve fuhr und etwa zehn Meter von der Gondel entfernt
zum Halten kam. Eine Tür öffnete sich, ein großer schwarzbärtiger
Mann in einem zerknitterten weißen Leinenanzug stieg aus und sah
Hinkeldey fragend an: »Ich habe Ehre mit Herrn Dr. Grunzbach?«
»Ich
bin Professor Hinkeldey. Dr. Grunzbach sehen Sie dort, an der Gondel.
Und Sie sind natürlich...«
Der
Mann nahm seinen Strohhut ab und machte eine knappe Verbeugung. »Dr. Pereira.
Ihr Diener!«
Er
drehte sich um, griff in den Wagen und zog ohne große Mühe
eine zweite Person heraus, trotz der bulgarischen Hitze eingemummelt wie
im tiefsten Winter. Zwischen der in die Stirn gezogenen weiten Hutkrempe,
dem Mantelkragen und dem dicken Wollschal wurde ab und zu ein dunkles
Gesicht mit großen Augen und einem schmalen Schnurrbart sichtbar.
Das mußte der bekannte indische Revolutionär Har Dayal sein.
Hinkeldey
stürzte sich sofort auf ihn und begann, schnell und geläufig
in einer mir unbekannten Sprache, vermutlich Hindi, auf ihn einzureden.
Dayal gab keine Antwort. Er machte einen Schritt zurück und hob abwehrend
die Hände.
Dr.
Pereira stellte sich vor ihn. »Bitte, Professor. Meine Patient, er benötigt
absolut Ruhe!«
»Aber
wir haben doch so viel zu besprechen!«
»Nicht
jetzt, Professor. Später.«
»Heute
abend?«
»Sehr
bedauerlich, Professor. Meine Patient, er muß in sein Kabin sofort
und ruhen aus. Vielleicht morgen Sie können reden mit ihn.«
Damit
schob Pereira seinen Schützling vorbei am sichtlich enttäuschten
Hinkeldey zum Bug der Gondel. Beide verschwanden aus meinem Blickfeld,
gefolgt von Hinkeldey, Grunzbach und einem Kofferträger. Wenige Minuten
später hörte ich im Korridor Schritte und leise, undeutliche
Stimmen: Har Dayal und Pereira wurden in ihre Kabinen gebracht.
Unmittelbar
darauf setzte draußen lautes Getöse ein. Das Bodenpersonal
hatte seine Schattenplätze verlassen und nahm wieder Position an
den Seilen ein. Ballast wurde abgeworfen, Erschütterungen liefen
durchs Luftschiff – wir begannen zu steigen. Die Motoren sprangen
an, und kurze Zeit später nahm L 100 Fahrt auf. Kurs Südost,
Richtung Kleinasien, Orient, Persien, Afghanistan.
Leutnant
von Prillwitz riß meine Tür auf: »Sie dürfen raus, wenn
Sie wollen, Herr Hatch. In einer Stunde Abendessen!«
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© 2009 Michael Koser |
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