V

3. Mai 1916

MORD?



In der Nacht überflogen wir Konstantinopel, wovon ich nichts mitkriegte, weil ich lieber schlafen als aus tausend Metern Höhe auf ein paar Lichter in schwarzer Nacht runterschauen wollte. Außerdem hatte ich den Eunuchen-Fall, den ich dort mit Professor van Dusen erlebt hatte, in nicht eben guter Erinnerung.
Trotz meines ausgiebigen Nickerchens in Jamboli schlief ich diesmal besser als in der vorigen Nacht, sogar so gut, daß ich das ungewöhnliche Gelaufe und Gerufe vor meiner Kabine erst nach einiger Zeit zur Kenntnis nahm. Was war da los?
Ich schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Schräg gegenüber, in und vor Hinkeldeys Kabine, drängten sich Grunzbach, Kapitän Heinsius, Pereira und, ein bißchen außen vor, von Prillwitz, der sich auf die Zehenspitzen stellte, um über die anderen in die Kabine spähen zu können.
Ich tippte ihm auf die Schulter: »Ist was passiert?«
Der Leutnant drehte sich zu mir um. »Professor Hinkeldey...«, sagte er und schluckte.
»Was ist mit ihm?«
»Tot, Herr Hatch! Professor Hinkeldey ist heute nacht gestorben!«
Endlich! werden Sie sagen, meine Damen und Herren. Endlich ist es soweit: eine Leiche! Ich wette. Sie haben schon mit Sehnsucht darauf gewartet.
Ich drängte mich durch. Hinkeldey lag still auf seiner Pritsche.
Dr. Pereira, der sich über ihn gebeugt hatte, richtete sich auf.
»Keine Zweifel«, sagte er laut und deutlich. »Professor Hinkeldey, er ist tot! Eine große Verlust für Wissenschaft!«
»Ein Verlust für unsere Mission!« beschwerte sich Grunzbach. »Was machen wir jetzt ohne unseren Indien-Experten?«
»Woran ist er gestorben?« fragte Heinsius.
Pereira zuckte die Achseln. »Stillstand von Herz. Alte Mann, weite Fahrt durch Luft, unbequem, beschwerdevoll. Aber vor allem Aufregung wegen geheime Mission. Zuviel für Greis. Herz, er bleiben stehen.«
»Also ein natürlicher Tod. Sind Sie sicher?« Grunzbach war von Amts wegen argwöhnisch. »Keine Gewalteinwirkung?«
»Mord, Sie meinen? Ausgeschlossen, absolut und total. Ein Unglück, sehr bedauerhaft. Aber keine Mord.«
»Wirklich ganz sicher, Dr. Pereira?« fragte ich.
Der Arzt betrachtete mich mißbilligend. »Wer ist Doktor, Sie oder ich? – Wenn keine Fragen weiter, ich wieder zu Har Dayal Sahib. Lebende Patient wichtiger als Tote. Ayurvedische Grundsatz.«
»Tun Sie das, Doktor!« sagte Grunzbach. »Noch so ein Malör, und unsere Mission ist am Ende.«

***

Ich war allein in Hinkeldeys Kabine zurückgeblieben, abgesehen von ihrem stummen, stillen, steifen Bewohner auf der Pritsche. Ich wollte mich ein wenig umsehen. Wonach genau, das wußte ich nicht. Aber meine jahrelange intensive Tätigkeit als Assistent, Begleiter und Chronist des größten Amateur-Kriminologen aller Zeiten hatte mich gelehrt, allzu glatten Tatbeständen und offensichtlichen Diagnosen zu mißtrauen.
Eine Stimme trieb mich an, eine innere Stimme namens Professor van Dusen.
Halten Sie Umschau, mein lieber Hatch.
Mach ich, Professor.
Am liebsten wäre ich auch noch geistesabwesend und vor mich hin murmelnd herumspaziert, doch das ging leider nicht. Murmeln und Geistesabwesenheit wären mir nicht schwergefallen –
Vor allem, was Letzteres betrifft, haben Sie fraglos recht, mein lieber Hatch.
aber zum Spazieren war die Kabine viel zu eng. Und ich bin schließlich ein ganzes Stück größer als Professor van Dusen.
Nur äußerlich, mein lieber Hatch, nur äußerlich!
Also hielt ich Umschau im Stehen. Ich betrachtete das Bullauge, warf einen eher kurzen Blick auf die Leiche...
Nur keine Angst, Hatch. Sehen Sie genauer hin!
Sie wollen doch wohl nicht, daß ich eine... wie heißt das? Autopsie durchführe, Professor?
Nicht doch, mein lieber Hatch. Ich bezweifle stark, daß Ihre ungeübten Laienhände einer solch diffizilen Operation gewachsen wären, von Ihrem sogenannten Denkorgan ganz zu schweigen. Ich verlange von Ihnen lediglich eine gründliche äußerliche Inaugenscheinnahme.
Ich nahm den seligen Professor Hinkeldey in Augenschein: sein Gesicht, seine Hände und Füße, seinen Pyjama. Und dabei fiel mir was auf.
Was Sie nicht sagen, mein lieber Hatch. Reden Sie!
Die Hände, Professor. Oder genauer: die Fingernägel. Unter den Nägeln der Ring-, Mittel- und Zeigefinger an beiden Händen befinden sich Spuren einer bräunlichen Substanz.
Könnte es sich um Blut handeln?
Glaub ich nicht. Getrocknetes Blut wäre dunkelrot bis schwarz. Das Zeug unter den Nägeln ist eher... braun, mittelbraun, würde ich sagen. So eine Art Schmiere.
Aha. Sehr interessant. Und sonst haben Sie nichts Ungewöhnliches bemerkt, mein lieber Hatch?
Nicht daß ich wüßte, Professor. Außer Sie finden es ungewöhnlich, daß das Bullauge nicht fest zugeschraubt, sondern nur angelehnt ist. Aber das könnte Hinkeldey selbst getan haben. Vielleicht ist er ein Frischluftfanatiker.
Bei flotter Fahrt mit – wie schnell ist L 100?
Siebzig Stundenkilometer Dauergeschwindigkeit, Professor. Mögliche Höchstgeschwindigkeit hundert Stundenkilometer.
Bei einem solchen Tempo in einer Flughöhe von rund tausend Metern würde nicht einmal ein grönländischer Eskimo bei geöffnetem Bullauge schlafen.
Meinen Sie, Professor? Da ist übrigens noch was. Was Ungewöhnliches.
In der Tat, mein lieber Hatch? Berichten Sie!
Das Kopfkissen. Es liegt nicht auf der Pritsche, sondern daneben, auf dem Boden. Ob das was zu bedeuten hat?
Das, mein lieber Hatch, ist die Frage.
So, und jetzt kommt der Moment, Professor, wo Sie mir sagen: Denken Sie nach, mein lieber Hatch. Und ich denke und denke und mir fällt beim besten Willen nichts ein und Sie setzen Ihr süffisantes Lächeln auf und sagen: Wie immer, mein lieber Hatch –
Da wurde meine interne Auseinandersetzung mit Professor van Dusen, meiner inneren Stimme, unterbrochen. Die Tür zu Hinkeldeys Kabine ging auf – Leutnant von Prillwitz kam rein. Hinter ihm konnte man im Korridor zwei wackere Luftmatrosen sehen, die ein großes Stück Segeltuch nebst einer deutschen Reichskriegsflagge trugen.
»Machen Sie Platz, Herr Hatch!«
Ich verzog mich in den Korridor und sah zu, wie die beiden Matrosen anfingen, Hinkeldeys Leiche in eine Segeltuchhülle einzunähen.
»Sarg haben wir leider nicht an Bord«, erklärte Prillwitz. »Geht auch so. Bestattung ist noch heute vormittag. Zehn Uhr. Auf der Brücke. Wenn wir über dem Mittelmeer sind.«
»Dann geht der arme Professor Hinkeldey über Bord?«
»Kombinierte Luft- und Seebestattung, Herr Hatch. Sieht man nicht oft.«
»Kann ich auch kommen? Immerhin kannte ich Hinkeldey seit vielen Jahren.«
»Warum nicht? Wenn noch Platz ist...«

***

Die Brücke war voll, aber ein schlanker Reporter paßte gerade noch rein. Die beiden Rudergänger standen an ihren Steuerrädern, Kapitän Heinsius war natürlich da, Dr. Grunzbach, Dr. Pereira, sein geheimnisvoller Schützling, der mit hochgeschlagenem Kragen auf einer Kiste hockte. Anscheinend ging es ihm noch immer nicht gut – er stützte sich auf einen Stock und auf den Arm seines Arztes.
Der Tote lag auf dem Boden, eingehüllt in Segeltuch und Reichskriegsflagge. Neben ihm stand ein Matrose, die Hände an der Hosennaht.
Der Kapitän hob die Hand. »Ich bitte um Ruhe«, sagte er. »Wir beginnen mit der Zeremonie.«
Es wurde still.
»Lassen Sie mich einige Worte über den Verstorbenen –«, begann Heinsius, als er von Grunzbach unterbrochen wurde:
»Das ist doch wohl meine Aufgabe! Ich bin der Führer der Geheimmission nach Afghanistan!«
Heinsius zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen, Dr. Grunzbach. Bitte!«
Grunzbach räusperte sich. »Professor Hugo Hinkeldey«, sagte er dann laut, »ein deutscher Wissenschaftler und wahrer Patriot, hat in unermüdlicher Pflichterfüllung sein Leben für das Vaterland gegeben. Er lebe hoch – äh, ich meine, er ruhe in Frieden!«
Grunzbach trat einen Schritt zurück. Heinsius nickte dem strammstehenden Seemann zu. Der öffnete die Außentür der Brücke, packte die eingewickelte Leiche an den Füßen und schob sie durch die Tür. Auf ein zweites Nicken des Kapitäns ließ er los. Hinkeldey trudelte durch die Luft, bis er nach langen Sekunden im blauen Meer unter uns aufschlug und versank.
»Bestattung beendet!« erklärte der Kapitän. »Meine Herren, auf Ihre Posten!«
Grunzbach, Inder und Arzt verschwanden sofort in ihren Kabinen. Ich wollte gerade ihrem Beispiel folgen, als mir was einfiel. Vielleicht war es ja meine innere kriminologische Stimme, die mir einflüsterte, den Wachposten vor dem Lagerraum zu befragen.
»Sagen Sie mal, guter Mann, haben Sie auch in der letzten Nacht hier Wache geschoben?«
»Jawohl, mein Herr!« sagte er laut – und leise fügte er hinzu: »Ich hätte schon vor Stunden abgelöst werden sollen, aber bei diesem Trubel...«
»Hat man Sie schlicht vergessen. Tja, c'est la guerre, mein Freund. Was ich Sie fragen wollte: Hatte Professor Hinkeldey nachts in seiner Kabine Besuch?«
»Jawohl. Der ausländische Arzt war bei ihm. Gegen elf.«
»Dr. Pereira. Sieh mal an. Wann ist er gegangen?«
»Paar Minuten später. Jedenfalls bald. Und gerade, als er ging, kam Herr Dr. Grunzbach zum Professor. Aber er ist auch nur kurz geblieben.«
»Danke, mein Guter«, sagte ich und klopfte bei Pereira. Der erklärte, Hinkeldey habe sich nicht gut gefühlt und um seinen medizinischen Rat gebeten.
»Was haben Sie ihm empfohlen, Doktor?«
»Ruhe. Entspannung. Meditation.«
»Das hat ihm nicht gerade gut getan, oder?«
»Konnte ich wissen, wie sehr Professor war krank an Herz? Und überhaupt – was geht Sie an, Herr Hatch?«
Er knallte die Tür zu.
Ähnlich reagierte Dr. Grunzbach, als ich ihn nach seinem nächtlichen Besuch bei Hinkeldey befragte. Er habe vorgehabt, sagte er, über die Afghanistan-Mission zu konferieren, doch sein wissenschaftlicher Experte sei dazu zu müde gewesen, weshalb er sich bald empfohlen habe.
»Und das empfehle ich auch Ihnen, Herr Hatch, dringend! Gehen Sie in Ihre Kabine! Empfehle mich!«
Bumms! Tür zu!

***

In der Kabine setzte ich mich zu einer neuen Konferenz mit mir selbst beziehungsweise meiner inneren Beraterstimme zusammen.
Bravo, mein lieber Hatch. Effektiver und zielorientierter als Sie hätte nicht einmal ich in eigener Person die notwendigen Verhöre durchführen können.
Ich fühle mich geschmeichelt, Professor.
Ruhen Sie sich nicht auf Ihren Lorbeeren aus, mein lieber Hatch. Jetzt beginnt der Fall interessant zu werden.
Haben wir einen Fall, Professor?
Zweifellos, mein lieber Hatch. Den Mordfall Hinkeldey.
Sie glauben also, Hinkeldey wurde ermordet?
Ich glaube es nicht, ich weiß es.
Und wieso – ?
Vier Gründe, mein lieber Hatch. Erstens: das nur angelehnte, nicht verschraubte Bullauge. Zweitens: die bräunliche Substanz unter Hinkeldeys Fingernägeln. Drittens: das auf dem Boden liegende Kopfkissen. Und viertens: die Ergebnisse Ihrer Befragungen.
Und aus alledem schließen Sie auf einen Mord, Professor?
Ich bin dessen sicher, mein lieber Hatch.
Wenn Sie Recht haben, Professor –
Wenn? Ich habe immer Recht, mein lieber Hatch, das wissen Sie doch.
dann erheben sich zwei Fragen: Wie wurde Hinkeldey ermordet? Und vor allem: Wer ist der Täter? Grunzbach? Kann ich mir nicht denken. Pereira? Ich weiß nicht...
Nur eine Person kommt als Täter in Frage.
Wer?
Fragen Sie nicht, mein lieber Hatch, denken Sie nach, zählen Sie zwei und zwei zusammen!
Ich tat, wie mir geheißen – und Sie werden es nicht glauben, meine Damen und Herren: Noch ganz undeutlich, schwach und vage zeichneten sich vor meinem inneren Auge die Konturen des Mörders ab! Allerdings war das, was ich zu sehen glaubte, so unwahrscheinlich, so phantastisch, daß ich mir kaum vorstellen konnte, auf der richtigen Fährte zu sein.
Sie wollen wissen, an wen ich dachte? Lassen Sie sich daran erinnern, daß Professor van Dusen die Wahrheit immer erst am Ende eines Falles aufgedeckt hat. Der Assistent kann nichts besseres tun, als dem Beispiel des Meisters zu folgen.
Und das Ende des Falles, mein lieber Hatch, ist noch in weiter Ferne. Denn bei diesem einen Mord, das versichere ich Ihnen, wird es keinesfalls bleiben. Sie erinnern sich an unsere Seereise von Yokohama nach San Francisco auf der »Kaiserin von China«?
Selbstverständlich, Professor. Als Ihr Begleiter und Chronist kenne ich alle Ihre Fälle.
Sie haben damals unser Gefährt der zahlreichen Morde an Bord wegen als Totenschiff bezeichnet. Wie ich fürchte, wird L 100 sich demnächst als Totenluftschiff erweisen – oder sollte es Lufttotenschiff heißen?
Wie auch immer – schon am nächsten Morgen wurde diese Befürchtung auf schreckliche Weise Wirklichkeit.

***

Gegen Mittag überquerten wir Damaskus, die letzte Funkpeilstation auf türkischem Gebiet. Von jetzt ab flog das Luftschiff nur nach Kompaß und Karte weiter in Richtung Osten.
Die Luftschiffer führten ihr Schiff. Ich nutzte die Zeit, um meine Notizen zu ordnen. Der indische Gast fühlte sich anscheinend besser – jedenfalls sah ich ihn einige Male im Korridor herumwandeln, allerdings am Stock und nicht gerade flott. Dr. Pereira inspizierte die Bordapotheke in der Kombüse und erklärte sie für ausreichend bestückt. Was Grunzbach tat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich machte er sich finstere Gedanken.
Die Stimmung beim Abendessen in der Messe war gedrückt. Es wurde kaum geredet, wenig gegessen und dafür dem Bier mehr zugesprochen als an den Vorabenden. Vielleicht aus diesem Grund schlief ich tief und fest.
   
 
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© 2009 Michael Koser