VI

4. Mai 1916

MEHR MORDE



Auf sehr abrupte und unerfreuliche Weise wurde ich aus meinem Tiefschlaf gerissen, durch einen lauten, aggressiven Ton, der kein Ende nahm. Was war das?
»Alarm, Herr Hatch!« sagte eine Stimme. »Wachen Sie auf!«
Ich öffnete die Augen. In der offenen Kabinentür stand Dr. Grunzbach. Und er sah noch unangenehmer aus als sonst. »Aufstehn!«
Ich rieb mir die Augen. »Wie spät ist es?«
»Sechs Uhr durch. Wachwechsel im Korridor. Und dabei haben wir's entdeckt und natürlich gleich Alarm geschlagen.«
»Entdeckt? Was?«
»Spielen Sie doch nicht den Unschuldigen! Raus aus dem Bett, und zwar ein bißchen plötzlich! Sonst laß ich Ihnen Beine machen!«
Ich richtete mich auf. »Regen Sie sich ab. Grunzbach. Ich weiß überhaupt nicht, was –«
Weiter kam ich nicht. Grunzbach war zur Seite getreten und hatte zwei kräftigen Marinesoldaten Platz gemacht, die mich an den Armen packten und kurzerhand von der Pritsche rissen.
Das ging entschieden zu weit. Laut berief ich mich auf meine Rechte als Bürger der USA, verlangte nach meinem Konsul, drohte mit den Marines – alles verlorene Liebesmüh. Grunzbach grinste nur grimmig, während seine Mannen mich durch den Gang zerrten.
Und da hörte ich auf zu protestieren.
Nicht, weil es ganz offensichtlich nichts nutzte, sondern weil das, was ich jetzt sehen mußte, mir die Stimme und fast auch den Atem verschlug.
Im Korridor lag der Wachposten. Still und steif stierte er mit offenen Augen, die nichts mehr sahen, an die Decke. Und das war erst der Anfang. In ihren Kabinen, deren Türen offenstanden, lagen Kapitän Heinsius, Wachoffizier Müller und der Obersteuermann. Alle drei waren mindestens ebenso tot wie der Wachposten.
»Um Gotteswillen!« Ich fand meine Stimme wieder. »Was ist passiert?«
»Das frage ich Sie, Herr Hatch!« bellte Grunzbach.
»Mich? Wieso mich? Ich habe keine Ahnung –«
»Sie lügen! Sie haben heute nacht an Bord sechs Menschen umgebracht!«
»Sechs? Ich seh nur vier!«
»Der Funker liegt tot in seinem Raum. Das Funkgerät ist zerstört. Im Moment zum Glück kein Problem. Wir müssen sowieso Funkstille halten, weil wir uns im persischen Luftraum bewegen, über britischem Einflußgebiet. Aber was ein Problem ist: Der wichtigste Mann an Bord, nach mir natürlich, der Inder Har Dayal ist spurlos verschwunden! Sie haben ihn über Bord gehen lassen, Herr Hatch, da bin ich mir sicher!«
»Sie sind verrückt, Grunzbach!«
»Mitnichten, Herr Hatch, ich bin bei vollem Verstand – und ich sehe klar: Sie sind der einzige Außenseiter in L 100 – Sie stecken hinter dem nächtlichen Massenmord!«
»Warum sollte ich sowas tun?«
»Sie sind gekauft, Herr Hatch, vom britischen Geheimdienst – Sie sollen unsere womöglich kriegsentscheidende Mission verhindern! Und das wäre Ihnen auch fast gelungen, wenn ich mich nicht gestern abend entschlossen hätte, die Ladung im Schiff zu inspizieren, und wenn ich dabei nicht, von einer merkwürdigen Müdigkeit übermannt, eingeschlafen wäre. Als Sie Ihren mörderischen Zug durch die Führergondel unternahmen, war ich darum nicht in meiner Kabine. Nur aus diesem Grund bin ich noch am Leben, um unsere Mission fortzusetzen und um die ermordeten Kameraden zu rächen! Weiter!«
Sie schleppten mich durch die Messe, vorbei am Funkraum. Der Funker saß vor seiner zersplitterten Apparatur, den Kopf auf dem Tisch. Dr. Pereira beugte sich über ihn. Wie bei den anderen Toten konnte ich weder eine Waffe noch Wunden oder Blut erkennen.
Dann erreichten wir die Brücke, wo sich Leutnant von Prillwitz und zwei Steuerleute aufhielten.
»Stellen Sie den Alarm ab, Leutnant!« kläffte Grunzbach. »Das ist jetzt nicht mehr nötig!«
Prillwitz zuckte die Achseln und legte einen Hebel um. Der nervtötende Alarmton brach ab, es wurde still, abgesehen vom Geräusch der Motoren und vom Fahrtwind. Ich merkte plötzlich, wie kalt mir war. Offenbar waren wir heute nacht auf größere Höhe gegangen, um möglichen englischen Fliegern auszuweichen.
»Meine Jacke«, sagte ich durch klappernde Zähne, »könnte ich meine Jacke...«
»Wozu?« Grunzbach grinste wie ein gotischer Wasserspeier. »Sie brauchen keine Jacke. Sie brauchen überhaupt nichts mehr. Öffnen Sie die Außentür, Leutnant!«
Prillwitz sah uns an und rührte sich nicht.
»Wird's bald?«
»Was haben Sie mit Herrn Hatch vor, Grunzbach?«
»Dr. Grunzbach, wenn ich bitten darf! Und was diesen Feindagenten und Massenmörder betrifft, der geht über Bord! Kurz, aber nicht schmerzlos! Also los, machen Sie die Tür auf!«
Prillwitz richtete sich auf. »Ich denke nicht daran!«
Grunzbach lief dunkelrot an und gurgelte. »Was... was fällt Ihnen ein? Sie, ein kleiner Leutnant, wagen es, sich dem Chef des kaiserlichen Geheimdienstes zu widersetzen? Sie kommen vors Kriegsgericht! Öffnen Sie die Tür!«
»Ein kleiner Leutnant, das mag sein, Dr. Grunzbach. Aber da Kapitän Heinsius und der Eins WO tot sind, bin ich jetzt der Kommandant von L 100. Und was auf L 100 geschieht, bestimme ich. Bei mir geht niemand über Bord, bei mir gibt es keinen kurzen Prozeß, sondern eine faire Verhandlung. Jansen, Kaminski, lassen Sie den Mann los! Und holen Sie ihm eine warme Jacke!«

***

Grunzbach, dem vor Wut fast die Augen aus dem Kopf traten, mußte sich fügen. Er tigerte auf der Brücke hin und her, zwischen Seitensteuer und Höhensteuer, wobei er ausgesprochen finstere Blicke abwechselnd auf mich und auf Leutnant von Prillwitz warf. Der gähnte immer wieder, weil er die ganze Nacht Dienst getan hatte und reif für die Koje war.
Aber wer sollte ihn ablösen? Alle anderen Offiziere waren tot, bis auf den Ingenieur, der für die Führung des Luftschiffs nicht in Frage kam, weil er nur was von Motoren verstand.
»Setzen Sie sich um Himmelswillen hin, Dr. Grunzbach!« sagte er schließlich, legte die Karte aus der Hand, die er in den letzten Minuten studiert hatte, und drückte auf den Hebel der Sprechanlage. »Achtung! Maschinistenmaaten in die Motorgondeln! Zwei Mann auf die obere Maschinengewehr-Plattform! Der Rest sammelt sich am Schacht und hält sich bereit, auf Befehl sofort zur Brücke abzuentern!«
Durch den Schacht von der Brücke zum Schiff drangen Geräusche: Menschen bewegten sich, stießen gegen die Aluminiumstreben, redeten leise miteinander. Dann wurde es still.
»Befehl ausgeführt!« rief jemand herunter.
»Sehr gut!« Prillwitz nickte zufrieden. »Dr. Pereira auf die Brücke!« rief er dann in die Telephonmuschel.
Der Doktor kam und lehnte sich an die Wand. Prillwitz hob die Hand. »Jetzt sind wir vollzählig«, erklärte er. »Dann wollen wir mal versuchen, das Massaker der vergangenen Nacht aufzuklären.«
»Was ist da groß aufzuklären?« warf Grunzbach ein. »Der Mörder ist Hatch, und damit hat sich's!«
»Warum ich, Grunzbach? Warum nicht Pereira? Oder Sie selbst?«
»Lächerlich!« knurrte Grunzbach, und der portugiesische Arzt schüttelte den Kopf. »Keine Morde, keine Mörder«, sagte er. »Plötzliche Krankheit haben gerafft dahin Kapitän und die anderen. Eine... wie sagt man? Epidemie.«
»Was für eine Krankheit?« fragte Prillwitz.
Pereira zog die Schultern hoch. »Kann nicht sagen. Kein Untersuchung möglich. Hier kein Laboratorium.«
Grunzbach machte ein ungläubiges Gesicht: »Eine rätselhafte Epidemie, die nur Offiziere befällt? Blödsinn!«
Er trat nahe an mich heran: »Geben Sie's zu, Herr Hatch – Sie haben die Männer umgebracht!«
»Und wie soll ich das gemacht haben?«
»Was weiß ich? Gift, nehme ich an.«
Einer der beiden Luftschiffmatrosen neben mir, Jansen oder Kaminski, schüttelte den Kopf und machte den Mund auf: »Bitte sprechen zu dürfen!«
»Erlaubnis gewährt«, sagte Prillwitz. »Was gibt's, Jansen?«
»Heute morgen, kurz vor sechs, da wollt ich doch den Grigoleit ablösen...«
»Den Posten im Gang?« fragte Grunzbach. Jansen nickte.
»Und weiter?«
»Ja, da lag er, der Grigoleit, und war tot. Und wie ich mich bücke und ihn so angucke, was seh ich da?« Jansen schaute uns erwartungsvoll an.
»Was denn? Was haben Sie gesehen? Machen Sie den Mund auf, Mann!«
»Ein Loch. Jawohl, ein Loch hab ich gesehen. In der Jacke von Grigoleit. Links. Also von mir aus rechts. Aber eigentlich links.«
»Ja! Ja! Weiter!« Grunzbach wurde immer ungeduldiger.
»Da hab ich die Jacke aufgemacht. Die von Grigoleit, meine ich. Und da war auch in seinem Unterhemd ein Loch. Da hab ich das Unterhemd hochgeschoben. Und da war in der Brust von Grigoleit auch ein Loch. So ein kleines, rundes. Und nur ganz wenig Blut.«
»Ein Loch über dem Herzen?« fragte Prillwitz.
»Moment. Das Herz ist... links. Jawohl, Herr Leutnant. Über dem Herzen. Ein Loch.«
»Das muß ich mir selbst ansehn!« Grunzbach drängte sich zur Korridortür durch. »Warten Sie auf mich, Leutnant, bin gleich wieder da!«

***

Mein lieber Hatch, Sie müssen etwas tun!
Leicht gesagt, Professor. Was denn?
Da meine Person bedauerlicherweise nicht mehr in der Lage dazu ist, obliegt es Ihnen, den mysteriösen Fall der Luftschiff-Morde einer Aufklärung zuzuführen.
Ich soll die Sache aufklären? Ja, wie denn?
Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, mein lieber Hatch. Sie wissen zur Genüge, wie so etwas vor sich geht. Sie rufen alle Beteiligten zusammen –
Sind schon da, Professor.
dann treten Sie vor und halten Vortrag.
Ich soll Ihre große Aufklärungsarie singen? Verkehrte Welt, Professor!
Gewiß. Doch wenn Sie der Wahrheit und dem Recht zum Siege verhelfen und darüber hinaus Ihr Leben retten wollen, bleibt es Ihnen nicht erspart. Nur Mut, mein lieber Hatch!
   
 
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© 2009 Michael Koser