VII

4. Mai 1916

VERHANDLUNG



Wir mußten nicht lange auf Dr. Grunzbach warten. Nach wenigen Minuten erschien er wieder, schwer atmend und tief rot im Gesicht. »Der Mann hat Recht!« sagte er. »Nicht nur der Posten, auch die übrigen Toten – Kapitän, Steuermann, Wachoffizier, Funker – haben kleine, runde Löcher in der linken Brust. Das heißt, sie wurden erstochen!«
Er wandte sich Pereira zu: »Sie haben doch die Opfer untersucht, Doktor – und dabei haben Sie die Wunden nicht bemerkt? Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
Pereira zuckte die Achseln und sagte nichts.
Mein lieber Hatch, fangen Sie an!
Ich gab mir einen Ruck. »Meine Herren«, sagte ich laut, »hören Sie mir zu!«
Grunzbach wollte protestieren und mir das Wort verbieten, aber Prillwitz bremste ihn und forderte mich auf zu sprechen.
»Ich danke Ihnen!« sagte ich. »Lassen Sie mich die relevanten Fakten des Falles kurz zusammenfassen.«
Sehr gut, mein lieber Hatch! Viel besser hätte selbst ich mich nicht ausdrücken können.
»Fünf Menschen wurden heute nacht an Bord von L 100 erstochen – nicht mit einem Messer oder Bajonett, sondern mit einer runden, spitzen Waffe, etwa einem Stoßdegen.«
»Von den drei Musketieren, was?« Grunzbach lachte grimmig. »Sie reden Blech!«
»Warten Sie's ab. Grunzbach.«
Doch der war noch nicht fertig. »Und was heißt fünf Menschen? Was ist mit Har Dayal?«
»Zum Inder komme ich später«, sagte ich, »ebenso zu Professor Hinkeldey, der nicht erstochen, sondern auf andere Weise zu Tode gebracht wurde. Bleiben wir vorerst bei letzter Nacht. In dieser Nacht habe ich tief und fest geschlafen – außergewöhnlich tief und fest.«
»Wie überaus interessant!« sagte Grunzbach höhnisch.
Ich ließ mich nicht beirren und fuhr fort: »Auch Dr. Grunzbach wurde, wie er mir mitteilte, von einer ungewöhnlichen Müdigkeit übermannt. Gestern Abend in der Messe haben Dr. Grunzbach, ich und die vier Opfer im Offiziersrang in grösserem Ausmaß als sonst dem Bier zugesprochen. Insofern steht zu vermuten –«
Bravo, mein lieber Hatch. Selbst Ihre Diktion schwingt sich gelegentlich zu fast vandusenschen Höhen auf.
»– daß dem Bier ein Schlafmittel zugesetzt wurde. Wo wird das Bier aufbewahrt?«
»In der Kombüse natürlich«, sagte Leutnant von Prillwitz. »In einem Faß.«
»In der Kombüse, so ist es. Und in der Kombüse befindet sich auch die Bordapotheke. Nehmen wir an, jemand inspiziert die Apotheke. Für diesen Jemand wäre es ein leichtes, ein Schlafmittel ins Bierfaß zu kippen. Meinen Sie nicht auch, Dr. Pereira?«
Der Arzt blieb stumm, im Gegensatz zu Grunzbach. »Dr. Pereira hat sich gestern die Bordapotheke angesehen«, sagte er nachdenklich. »Aber warum hätte er uns einschläfern sollen?«
»Dafür gibt es zwei gute Gründe«, erklärte ich. »Erstens: Die Opfer wurden auf diese Weise ruhig gestellt und konnten problemlos im Schlaf erstochen werden. Zweitens: Andere Kabinenbewohner wurden in Tiefschlaf versetzt, damit der Mörder sein Werk unbeobachtet und ungestört verrichten konnte. Aus eben diesem Grund mußte der Wachposten im Korridor sterben. Er hatte kein Bier zu sich genommen –«
»Natürlich nicht!« schaltete Prillwitz ein. »Bier nur für Offiziere und Gäste, Mannschaft kriegt Wasser.«
»– und darum auch kein Schlafmittel.«
Während meiner Ausführungen warfen Prillwitz und Grunzbach immer argwöhnischere Blicke auf den Arzt, der weiter keinerlei Regung zeigte.
»Wer hat gestern abend kein Bier getrunken?« fragte ich in die Runde.
»Ich!« Das war der Leutnant. »Ich hatte nachts Dienst auf der Brücke, darum habe ich mich an Wasser gehalten.«
»Sehr löblich. Har Dayal, Ihr indischer Gast, hat als Vegetarier und strikter Antialkoholiker ebenfalls auf Bier verzichtet – und Sie, Dr. Pereira?«
Wieder keine Reaktion des Portugiesen.
»Der auch«, sagte Grunzbach schnell. »Ebenfalls Abstinenzler, der Mann.«
»Ich halte fest«, sagte ich, »Dr. Pereira trank kein Bier. Und – Dr. Pereira hat die Toten der letzten Nacht untersucht und dabei die Stichwunden übersehen. Stattdessen hat er eine mysteriöse Epidemie diagnostiziert.«
Diagnostiziert – ein kompliziertes Wort, das Ihnen leicht und flüssig von den Lippen gleitet. Mein lieber Hatch, ich bin beeindruckt!
Nach einer kleinen Pause nahm Dr. Grunzbach das Wort: »Ich muß Ihnen zustimmen, Herr Hatch – Pereiras Verhalten ist hochverdächtig. Doch welchen Grund soll er gehabt haben, Massenmord zu begehen?«
»Vielleicht plötzlich durchgeknallt«, schlug der Leutnant vor. »Vom Wahnsinn gebeutelt oder so.«
»Keinesfalls.« Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt einen durchaus rationalen und einsichtigen Grund für die Mordserie. Sie haben ihn mir vorhin genannt, Dr. Grunzbach. Ihre Mission nach Afghanistan und Indien sollte unterbunden werden.«
Grunzbach wirkte irritiert. »Versteh ich nicht. Pereira ist der Arzt von Har Dayal. Wir stehen auf derselben Seite, was man von Ihnen, Herr Hatch, nicht unbedingt annehmen kann. Sie können uns viel erzählen. Ich bleibe dabei: Der einzige Mensch an Bord, der ein Motiv haben könnte, eine unter Umständen kriegsentscheidende Aktion des deutschen Reichs zu sabotieren, sind Sie!«
»Und wenn Sie es auch noch so oft wiederholen. Grunzbach – wahr ist diese Ihre Beschuldigung nicht. Wahr ist vielmehr folgendes: Zwei Personen haben, seit sie an Bord gekommen sind, beharrlich und zielstrebig darauf hingearbeitet, die Mission von L 100 unmöglich zu machen.«
»Und wer sollte das sein?«
»Natürlich die beiden Personen, die sich Har Dayal und Dr. Pereira nennen, wie immer sie in Wahrheit heißen mögen.«
Prillwitz machte ein ausgesprochen dummes Gesicht, Grunzbach schnaubte: »Blödsinn! Sie reden irre! Bringen Sie Hatch zum Schweigen, Leutnant! Wir haben keine Zeit für Wahnvorstellungen und idiotische Schutzbehauptungen!«
»Lassen Sie Herrn Hatch weiterreden, Dr. Grunzbach!« sagte Prillwitz scharf. »Ob es sich um Wahnvorstellungen handelt oder nicht, werde ich nach seiner Beweisführung entscheiden.«
Grunzbach ballte die Fäuste und verdrehte die Augen. Aber er blieb stumm, und ich konnte fortfahren.
»Kommen wir zurück auf die Nacht vom 2. auf den 3. Mai, präziser formuliert, auf den Tod von Professor Hinkeldey.«
»Herzschlag«, knurrte Grunzbach.
»Sagt wer? Dr. Pereira, ein absolut unglaubwürdiger und höchst verdächtiger Zeuge. Nein – Hinkeldeys Tod war Mord!«
Grunzbach schnaubte lauter: »Mord? Wie denn? Hinkeldey hatte keine Wunde, und auf dem Gang vor seiner Kabine stand der Wachposten! Quatsch mit Soße!«
Geben Sie es diesem widerlichen Typ, mein lieber Hatch! Machen Sie ihn klein und noch häßlicher, als er von Natur bereits ist!
Mit Vergnügen, Professor.
»Meine Herren – ich rekonstruiere die Tat. Am späten Abend suchte Dr. Pereira Professor Hinkeldey in seiner Kabine auf, um ihn medizinisch zu beraten. Bei dieser Gelegenheit hat er ihm möglicherweise ein Schlafmittel appliziert.«
Appliziert! Wunderbar! Mein lieber Hatch, Sie laufen zu großer Form auf!
»Außerdem sorgte er dafür, daß das Bullauge nur angelehnt, nicht voll verschraubt war. Als Dr. Grunzbach kurz nach Pereira bei Hinkeldey hereinschaute, war dieser so müde, daß der Besucher sich gleich wieder verabschiedete. Dr. Grunzbach wird das bestätigen.«
Grunzbach nickte, kurz und widerwillig.
»Besten Dank!« sagte ich höflich und setzte die Rekonstruktion fort: »Kurz darauf schlief Hinkeldey ein. Er schlief so fest, daß er nicht merkte, wie sein Bullauge von außen aufgedrückt wurde, wie eine dunkle Gestalt durch die Öffnung in die Kabine stieg, wie diese Gestalt ihm vorsichtig das Kissen unter dem Kopf wegzog. Als ihm dann das Kopfkissen aufs Gesicht gedrückt wurde, war es zu spät. Hinkeldey erwachte und wehrte sich – seine Finger fanden das Gesicht des Angreifers und kratzten braune Schminke ab, die ich später unter den Nägeln des Toten entdeckte. Doch der Mörder ließ sich nicht beirren und drückte weiter. Professor Hinkeldey erstickte. Der Mörder ließ das Kissen zu Boden fallen und verließ die Kabine, wie er sie betreten hatte, durchs Bullauge, das er hinter sich zuzog. Verschrauben konnte er es von außen natürlich nicht.«
Ich machte eine Pause.
»Quark!« Grunzbach zeigte auf Pereira. »Sehen Sie den Doktor doch an! Groß und breit! Und der soll durch das enge Bullauge gekrochen sein? Niemals!«
»Das habe ich auch nicht behauptet, Dr. Grunzbach.«
»So? Sie haben Pereira des Mordes an Hinkeldey beschuldigt!«
»Ich denke nicht daran. Der Mörder ist nicht Pereira – der Mörder ist klein, gelenkig, braun geschminkt – der Mörder ist –«
Grunzbach unterbrach: »Har Dayal? Har Dayal soll Hinkeldey umgebracht haben? Der Quark wird ja immer größer! Von allem anderen mal abgesehen – Har Dayal ist krank! Viel zu krank für eine lange Klettertour außen an der Führergondel!«
»Da die Kabinen von Hinkeldey und Har Dayal direkt nebeneinander liegen, war nur eine sehr kurze Klettertour notwendig. Und der angebliche Inder ist nicht krank. Er spielt lediglich den Kranken, um in seiner Rolle glaubwürdig zu erscheinen.«
Mein lieber Hatch, ich muß Sie loben – eine kohärente und schlüssige Argumentation in bester Van-Dusen-Manier.
Zu gütig, Professor.
Wissen Sie übrigens, woran Ihr Mordfall Hinkeldey mich erinnert? An Robinsons Insel. Hier wie dort hat sich ein weißhäutiger Mensch zwecks Begehung eines Verbrechens mittels Schminke in einen dunkelhäutigen Exoten verwandelt.
Genau, Professor. Und in Ihrer großen Saga gibt es noch einen Fall, der mit dem hier eine gewisse Ähnlichkeit hat. Ich meine die Teufelsaustreibung in New York anno 1901. Da schlängelte sich ein Akrobat durch einen engen Ventilationsschacht – und hier turnt ein kleiner, agiler Typ durch ein kleines Bullauge.
Sehr richtig, mein lieber Hatch. Doch nun sollten Sie fortfahren, auf daß Ihr Auditorium nicht ungeduldig werde.
Mein Auditorium, bestehend aus Dr. Grunzbach, Leutnant von Prillwitz, Pereira, Jansen, Kaminski und den zwei Steuerleuten, war weniger ungeduldig als vielmehr bestürzt, konsterniert, wie vom Donner gerührt ob meiner Enthüllungen. Nur Grunzbach war noch nicht endgültig überzeugt.
»Warum sollen Har Dayal und sein Arzt Hinkeldey getötet haben? Ein überzeugendes Motiv sind Sie uns schuldig geblieben, Herr Hatch.«
»Das liefere ich Ihnen gern nach, Dr. Grunzbach. Professor Hinkeldey wurde getötet, damit er nicht, wie von ihm voller Vorfreude angekündigt, ausgiebig mit Har Dayal plaudern konnte. Denn dann hätte sich sehr schnell herausgestellt, daß der angebliche Inder weder Hindi noch eine der anderen indischen Sprachen beherrschte. Kein Zweifel: Die beiden Personen, die sich Har Dayal und Dr. Pereira nennen, die vorgeben, ein bekannter indischer Revolutionär und sein Leibarzt zu sein, sind in Wahrheit Agenten einer Ihnen, meine Herren, feindlich gesinnten Macht.«
Grunzbach wollte noch immer nicht aufgeben: »Aber Har Dayal ist doch verschwunden! Wenn er selbst ermordet wurde, dann kann –«
»Er wurde nicht ermordet. Er hat sich versteckt.«
»Wo denn?« fragte Prillwitz. »Wir haben nach ihm gesucht.«
»Nicht gründlich genug, wie es scheint. Starten Sie eine neue Suchaktion. Sie werden ihn finden, lebendig und gesund, das verspreche ich Ihnen. Und wenn Sie ihn haben, dann, meine Herren, haben Sie auch die Waffe, mit der er Ihre fünf Kameraden erstochen hat. Ich erwähnte vorhin einen Degen, was bei Ihnen, Dr. Grunzbach, eine gewisse Heiterkeit auslöste. Bei seinen Spaziergängen in der Führergondel stützte Har Dayal sich auf einen Stock, bei dem es sich, wie ich annehme, um einen Stockdegen handelt. Mit diesem erstach er zunächst den Wachposten, um freie Bahn zu haben, sodann Kapitän Heinsius, den Obersteuermann, den ersten Wachoffizier und schließlich den Funker. Bekanntlich macht ein Stockdegen kleine, kaum sichtbare Wunden, aus denen nur wenig Blut tritt. Umso größer sind die inneren Blutungen, die sehr schnell zum Tode führen.«
Gesprochen wie ein pathologischer Experte, mein lieber Hatch. Ja, das menschliche Blut – immer wieder hochinteressant und, wie Mephisto so treffend bemerkt, »ein ganz besondrer Saft«. Wissen Sie noch, damals in Berlin, beim zweiten Phantom-Fall?
Natürlich, Professor. Sie haben den Präpi... Präpizi... wie hieß das noch gleich?
Ich habe den Präzipitin-Test nach Uhlenhorst-van Dusen durchgeführt, mit durchschlagendem Erfolg.
»Eins ist mir noch nicht ganz klar, Herr Hatch«, sagte Leutnant von Prillwitz. »Warum hat der angebliche Inder nicht schon Hinkeldey in der Nacht davor mit seinem Stockdegen erstochen? Warum die riskante Kletterpartie?«
»Eigentlich, so vermute ich, hätte Professor Hinkeldey erst in der zweiten Nacht mit den anderen Opfern sterben sollen. Aber wegen des Sprachenproblems mußte der Mord vorgezogen werden. Um nicht vorzeitig Mißtrauen zu erregen, sollte er als natürlicher Tod erscheinen. Darum der Weg durchs Bullauge, darum das Kissen statt des Degens.«
»Wo steckt Ihr Komplize?« brüllte plötzlich Grunzbach los und packte den angeblichen Dr. Pereira am Revers. »Gestehen Sie, auf der Stelle, oder ich lasse Sie aus der Gondel werfen!«
»Beruhigen Sie sich, Dr. Grunzbach!« sagte Prillwitz. »Wir werden das ganze Luftschiff aufs gründlichste durchsuchen, Gondeln und Hülle, und dann –«
»Nicht nötig«, sagte da eine Stimme von der Tür her. »Hier bin ich, meine Herren. Sie hätten unter der Pritsche in meiner Kabine nachsehen sollen!«
   
 
Weiter
   

© 2009 Michael Koser