VIII 4. Mai 1916 LETZTER AKT
In der Tür zum Korridor stand Har Dayal, ein dünnes
Lächeln unter dem dünnen Schnurrbart. In jeder Hand hielt er
eine Pistole, den ominösen Stock trug er unter den linken Arm geklemmt.
Eine der Pistolen warf er Pereira zu.
»Sie
behalten den Schacht nach oben im Auge!« befahl er ihm. »Passen Sie auf,
daß die Mannschaft in der Hülle uns nicht überrumpelt.«
»Aye,
aye!« Pereira stellte sich unter den Schacht und zielte nach oben.
»Nun
zu Ihnen, Gentlemen!« Dayal trat einen Schritt vor und beschrieb mit seiner
Pistole einen langsamen Halbkreis, von Grunzbach über mich, Jansen,
Kaminski zu Prillwitz und wieder zurück. »Wer sich von Ihnen zum
Helden berufen fühlt und uns angreift, wird erschossen! Sie wissen,
wir haben keine Skrupel – auf einen Toten mehr oder weniger kommt
es uns nicht an.«
Die
Stimme – was war mit Har Dayals Stimme? Nicht nur, daß sie
für einen Mann ganz ungewöhnlich und erstaunlich hoch war, sie
kam mir darüber hinaus auch noch sehr bekannt vor. Ich war mir sicher:
Ich kannte sie, ich hatte sie schon gehört, allerdings nicht in letzter
Zeit, sondern vor Jahren.
Niemand
bewegte sich. Mit dunkelrotem Kopf starrte Grunzbach auf die Waffe in
der Hand des falschen Inders. Prillwitz beobachtete Pereira, Dayal und
ab und zu den Kompaß. Jansen und Kaminski sahen sich ratlos an,
Höhen- und Seitensteuermann hielten Kurs.
Dayal
– ich nenne ihn vorerst weiter so – rümpfte die Nase.
»Auf
der Brücke halten sich eindeutig zu viele ungewaschene Männer
auf«, sagte er angewidert. »Sie beide –« (er zeigte auf Jansen und
Kaminski) »– Sie sind hier überflüssig. Nach oben, in
die Hülle zu Ihren Kameraden! Los! Hoch mit Ihnen!«
Hilfesuchend
schauten die beiden Matrosen auf ihren Kommandanten. Der nickte ihnen
kurz zu – sie stiegen auf. Pereira, der kurz zur Seite getreten
war, nahm seinen Platz wieder ein.
»So
ist es doch viel gemütlicher.« Har Dayal lehnte sich an den Türpfosten.
»Es wird Sie freuen, Mr. Hatch, daß Ihre Rekonstruktion in den allermeisten
Punkten absolut korrekt ist. Jawohl – mein Kollege und ich sind
Agenten des Secret Service. Als unsere Vorgesetzten in London von der
geplanten deutschen Luftschiff-Mission nach Afghanistan erfuhren –
übrigens von einem höheren Beamten in Ihrem Außenministerium,
Dr. Grunzbach – , schrillten bei ihnen alle Alarmglocken. Indien,
die Perle der britischen Krone, war bedroht, der Kriegserfolg stand auf
dem Spiel. Da die Nachricht erst vor wenigen Tagen im Hauptquartier des
Secret Service eintraf, Ende April, kurz vor dem Start von L 100, blieb
keine Zeit für elaborierte Planungen. Mein Kollege – sein Name
ist übrigens Ashenden –«
Pereira
alias Ashenden verbeugte sich knapp, ohne den Schacht aus den Augen zu
lassen.
»Mein
Kollege und ich, gerade in geheimer Mission in Konstantinopel tätig,
wurden verständigt. Wir beratschlagten, verwandelten uns in den berüchtigten
indischen Rebellen Har Dayal und seinen Arzt Dr. Pereira und stellten
uns als solche in der deutschen Gesandtschaft vor. Wir seien, sagten wir,
von den Andamanen geflohen und wollten uns auf deutscher Seite am Krieg
gegen England beteiligen. Wie wir erhofft hatten, erkannte Ihr Mann in
Konstantinopel, Dr. Grunzbach, Baron von Oppenheim, sehr schnell, wie
bedeutsam die Teilnahme Dayals an der geheimen Fahrt nach Afghanistan
sein würde, und arrangierte, in Abstimmung mit Berlin natürlich,
daß wir in Jamboli zusteigen sollten. Unser Auftrag, das versteht
sich, hieß Sabotage, Verhinderung des deutschen Unternehmens mit
allen Mitteln. Wir haben ihn nach Kräften erfüllt.«
Der
falsche Har Dayal warf sich stolz in die Brust und schaute uns an, als
erwarte er unseren Beifall. Der blieb aus, verständlicherweise.
»Was
ist eigentlich mit dem echten Dayal?« fragte ich. »Wo steckt er?«
»Immer
noch auf den Andamanen, im Straflager, in verschärfter Einzelhaft,
soviel ich weiß. Und da wird er bleiben, bis er noch schwärzer
ist.«
Woher
kannte ich nur die Stimme? Ich hatte vage Vorstellungen von einem orientalischen
Ambiente und von Professor van Dusen in einer für ihn höchst
ungewöhnlichen Situation. Wo und wann hatte ich diese Stimme gehört?
Während
ich mir den Kopf zerbrach, fuhr Dayal fort: »Auf welche Weise wir unseren
Auftrag erledigten, das wissen Sie, Gentlemen, dank des Scharfsinns von
Mr. Hatch. Analyse und Synthese, nicht wahr, Mr. Hatch? Zwei plus zwei
ist vier, immer und überall. Sie haben sich als ein gelehriger und
als ein exzellenter Schüler eines kriminologischen Großmeisters
entpuppt.«
Ich
war verblüfft. »Sie kennen Professor van Dusen?«
»Was
heißt kennen? Ich stand dem großen Mann nahe, sehr nahe –
näher als sonst ein Mensch auf der Welt, Sie eingeschlossen, Mr.
Hatch.«
Dayal
lächelte. Während er die Pistole in der Rechten weiter auf uns
gerichtet hielt, griff er sich mit der Linken unter die Nase, nahm den
Schnurrbart ab, ließ ihn fallen, zog dann ein Tuch aus der Tasche
und begann, sich das Gesicht abzureiben. Streifen um Streifen verschwand
die braune Schminke und zum Vorschein kam –
»Madame
Esmé!«
»Sie
erinnern sich also, Mr. Hatch.&aquo;
Und
wie ich mich erinnerte! An unseren Aufenthalt in Tanger im März 1905,
an »Rick's Café Américain«, an die Affäre um das Testament
des Sultans von Marokko, an den erbarmungslosen Kampf des »Deuxième
Bureau», vertreten durch Capitaine Crapaud, mit dem deutschen Geheimdienst
unter Dr. Grunzbach, an Grunzbachs Wahrheitsserum, an die Machinationen
der Schönheitstänzerin Esmé, die sich an van Dusen heranmachte,
nachts in seinem Schlafzimmer...
»Was
damals genau zwischen ihm und Ihnen passiert ist, hat der Professor mir
nie verraten wollen. Vielleicht können Sie mir helfen, diese Lücke
in der Van-Dusen-Chronik zu schließen, Madame Esmé...«
Esmé
lächelte durch die Farbreste in ihrem Gesicht und schüttelte
den Kopf. »Ich könnte, Mr. Hatch, aber ich werde es nicht tun. Die
Geschehnisse dieser Nacht werden für immer ein Geheimnis zwischen
dem Professor und mir bleiben.«
»Aber
Madame...«
Lassen
Sie ab von Ihrer schamlosen Neugier, Hatch! Diese Dinge sind Geschichte.
Bringen Sie Ihren aktuellen Fall zu einem, wie ich hoffe, guten Ende!
Wie
Sie meinen, Professor.
»Wie
Sie meinen, Madame.« Ich zuckte die Achseln.
»In
jenen Tagen zu Tanger, Mr. Hatch, hatte ich es sowohl mit dem französischen
als auch mit dem deutschen Geheimdienst verdorben. Was sollte ich machen?
Ich bot meine Dienste den Briten an, und die haben sie sehr gern akzeptiert.
Seitdem arbeite ich für den Secret Service.«
Seit
Madame Esmé ihre wahre Identität offenbart hatte, stierte
Dr. Grunzbach sie mit immer weiter vorquellenden Augen an. Jetzt erst
fand er seine Sprache wieder.
»Sie
sind es! Sie! Verräterin! Feile Dirne!«
Das
ging zu weit. Ich schaltete mich ein. »Mäßigen Sie sich, Grunzbach!«
sagte ich streng. »Sie beleidigen eine Dame!«
»Dame?«
Grunzbach schnaufte wie ein wütender Kampfstier. »Dame? Daß
ich nicht lache! Sowas ist keine Dame! Ein ehrloses Flittchen sind Sie,
eine Schlampe ohne jeden Funken Anstand und Moral!«
»Nur
zu, Dr. Grunzbach!« Esmé schien nicht im geringsten verärgert
oder gar gekränkt zu sein. »Schimpfen Sie sich aus, nach Herzenslust!
Sie sind der Verlierer, Ihre Mission ist vorbei, auf ganzer Linie gescheitert.«
Grunzbach
gurgelte in ohnmächtigem Zorn. »Gescheitert? Keineswegs! Die Mission
wird fortgeführt!«
»Wie
denn? Ohne Kapitän, ohne Navigator, ohne Funker, ohne Inder, ohne
Hinkeldey?«
»L
100 ist noch da und weiter auf Ostkurs – ich bin noch da –«
»Das
sollten wir korrigieren, Dr. Grunzbach«, sagte Esmé ruhig und drückte
ab.
Grunzbach
stöhnte auf, griff sich an die Brust, brach zusammen und blieb regungslos
liegen.
Einige
Sekunden Stille. Dann sah Ashenden seine Kollegin voller Bewunderung an.
»Gratuliere!« sagte er. »Sie haben den Chef des deutschen Geheimdienstes
erlegt, Miss Esmé. Ich wette, das gibt einen Orden. ›Dame des britischen
Empire‹, mindestens.«
Madame
lächelte bescheiden. »Wir haben alles getan, was uns möglich
war, Ashenden. Unser Auftrag ist erfüllt, wir können L 100 verlassen.«
Sie wandte sich zu mir: »Und Sie, Mr. Hatch, Sie kommen mit uns.«
Verlassen?
Wie sollten wir ein Luftschiff in voller Fahrt verlassen?
Antwort
bekam ich durch Esmé, die Prillwitz fragte: »Wo sind die Fallschirme?«
Der
Leutnant, der die Vorgänge der letzten Minuten rat- und hilflos verfolgt
hatte, zeigte stumm auf einen niedrigen Schrank neben der Tür zum
Korridor. Esmé öffnete ihn und zog nacheinander fünf
große Pakete heraus. »Wir brauchen nur drei«, sagte sie. »Machen
Sie die Außentür auf, Ashenden!«
Durch
die offene Tür schleuderte sie die beiden überflüssigen
Fallschirme nach draußen. Dann trat sie ans Kommandantenpult und
sah auf die dort ausgebreitete Karte.
»Wo
sind wir, Leutnant? Zeigen Sie's mir!«
Prillwitz
deutete auf einen Punkt der Karte.
»Aha.
Direkt über der persischen Salzwüste, der Descht-i-kewir. Sehr
gut.« Von der Karte sah sie auf den Kompaß, danach auf ihre silberne
Taschenuhr. »Noch eine Viertelstunde. Behalten Sie den anliegenden Kurs
bei, Leutnant! Und gehen Sie tiefer, auf vierhundert Meter!«
Sie
schnallte sich einen der Fallschirme wie einen Rucksack auf den Rücken.
»Sie auch, Ashenden«, sagte sie. »Und dann weisen Sie Mr. Hatch in den
Gebrauch des Fallschirms ein.«
***
An
der offenen Tür, durch die der Fahrtwind pfiff, standen wir zu dritt
mit angelegten Fallschirmen. Dem, was da gleich kommen sollte, sah ich
mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.
Sicher,
als Begleiter von Professor van Dusen habe ich so einiges mitmachen müssen:
Fahrten mit Luftschiff und Ballon, im Untersee-Boot und Renn-Automobil,
waghalsige Abseilaktionen und halsbrecherische Kunststücke auf dem
Hochseil. Aber ein Absprung mit dem Fallschirm war mir neu. Ich war nervös.
Mit einer Hand hielt ich mich am Türrahmen fest, die andere hatte
ich an der Reißleine. Im Geiste betete ich mir ständig die
Anweisungen vor, die ich von Ashenden in einem Schnellkurs bekommen hatte.
Madame
Esmé richtete die Pistole auf Leutnant von Prillwitz.
»Eigentlich
sollte ich auch Sie erschießen, Leutnant. Aber ich halte Sie für
einen Mann von Ehre. Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie während
unseres Falls nicht auf uns feuern lassen!«
Prillwitz
überlegte. Dann zuckte er die Achseln. »Sie haben mein Wort«, sagte
er.
»Sehr
vernünftig«, rief Madame Esmè und sprang ab. Ashenden und
ich folgten. Wie Ashenden es mir geraten hatte, ließ ich mich einige
Sekunden fallen, bevor ich die Reißleine zog. Ein heftiger Ruck
ging durch meinen Körper, als der Fallschirm sich über mir entfaltete.
Das Brummen der Luftschiffmotoren wurde leiser. Langsam schwebten wir
unter unseren großen weißen Pilzen der Erde entgegen.
Wenn
ich nach unten sah, hatte ich allerdings eher das Gefühl, dem Mond
oder dem Mars entgegen zu stürzen, so fremdartig und abschreckend
wirkte die Szenerie: Risse und Sprünge im rötlichen Boden, scharfe
graue Felsen, überall Salzkristalle, die in der Sonne glitzerten.
Kein Baum, kein Strauch, nicht mal ein Grashalm war zu sehen. Eine tote
Höllenlandschaft, nicht von dieser Welt.
Und
sie kam näher, immer näher – meine Füße berührten
den Boden – ein kräftiger Stoß – ich fiel um, rollte
ab – und blieb erst einmal liegen. Jeder Knochen tat mir weh.
Aber
da spitze Steine und scharfe Kanten nicht gerade für ein angenehmes
Ruhelager sorgen, rappelte ich mich bald auf und sah mich um. Nicht weit
von mir waren Esmé und Ashenden damit beschäftigt, ihre Fallschirme
zusammenzurollen. Ich folgte ihrem Beispiel.
Dann
hockten wir uns in den Schatten eines steil aufragenden Felsens und atmeten
durch. Es war unerträglich heiß – die Sonne brannte wie
ein biblischer Feuerofen. Madame Esmé hatte zum Glück daran
gedacht, eine metallene Wasserflasche einzustecken, und ließ sie
herumgehen.
Das
leise Motorengeräusch über uns änderte Richtung und Lautstärke.
Wir sahen hoch. L 100 war dabei, einen weiten Bogen zu beschreiben.
»Prillwitz
hat den Kurs geändert und fliegt zurück, Richtung Heimat. Gut
so. Er hat eingesehen, daß die Afghanistan-Mission gescheitert ist.«
Esmé zog die Schultern hoch. »Ein anständiger und einsichtiger
junger Mann, dieser Prillwitz. Schade um ihn.«
»Bis
nach Deutschland wird er es nicht schaffen«, sagte ich. »Zu wenig Benzin.
Aber türkisches Hoheitsgebiet, Mesopotamien, Syrien, das könnte
er erreichen.«
»Könnte
er, wird er aber nicht«, erklärte Esmé. »Wir haben im Lagerraum
von L 100 eine Bombe mit Zeitzünder deponiert. In –« (sie sah
auf ihre Uhr) »– etwa zwanzig Minuten geht sie hoch. Dann sind wir
hoffentlich schon weit weg.«
Ich
war entsetzt. »War das nötig? Wir sind in Sicherheit. Der Leutnant
hat sein Wort gehalten. Und Sie sprengen ihn in die Luft, mitsamt seiner
Besatzung! Das ist schändlich!«
»Eine
reguläre Kriegslist, Mr. Hatch. L 100 ist ein feindliches Luftschiff
voller Bomben und Granaten. Was wollen Sie? Wir sind im Krieg.«
»Ich
nicht!« sagte ich.
Esmé
lachte. »Mitgefangen, mitgehangen, Herr Hatch. In Ihrem Fall müßte
es eigentlich ›mitgerettet‘ heißen.«
L
100 verschwand hinter einem Gebirgszug im Osten. Einige Sekunden war es
ganz still in der persischen Salzwüste. Dann tauchte in der Ferne
ein neues Geräusch auf. Ich spitzte die Ohren: Hufe, Pferdehufe,
die näher kamen.
Wieder
sah Madame Esmé auf die Uhr. »Pünktlich auf die Minute«, sagte
sie zufrieden. Sie stand auf und winkte: »Hierher!«
Etwa
zehn, zwölf Reiter preschten heran, ritten Kreise um uns und schwenkten
Säbel und uralte Vorderlader. Wilde Wüstenräuber, dachte
ich. Die haben uns gerade noch gefehlt.
Einen
knappen Meter vor uns parierte der Wildeste und Bärtigste seinen
Gaul, schlug die Kapuze zurück und hob die Hand.
»Miss
Esmé nebst Begleitung, wie ich vermute?« sagte er in perfektem
Oxford-Englisch. »Entzückt. Ich bin Sandy Arbuthnot.«
Er
stieg vom Pferd. »Als ich Ihre Funknachricht erhielt, sind wir auf der
Stelle losgeritten, meine Leute und ich.«
Funknachricht?
Ich sah Esmé fragend an.
»Heute
nacht habe ich sie abgeschickt«, sagte sie. »Vom Funkgerät des Luftschiffs,
bevor wir es unbrauchbar machten. Sie haben Pferde für uns, Arbuthnot?«
***
Was
den Rest der Geschichte betrifft, kann ich es kurz machen, meine Damen
und Herren. Mr. Arbuthnot brachte uns nach Isfahan in der britischen Einflußzone.
Hier verabschiedete ich mich kurz und kühl von den Agenten des Secret
Service, machte einen Besuch beim amerikanischen Konsul und reiste nach
kurzer Erholung über Schiraz zum Hafen Bender Abbas am Persischen
Golf. Von hier ging es zu Schiff weiter, über Bombay, Singapur, Hawaii
zurück in die USA.
L
100 war und blieb verschwunden.
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© 2009 Michael Koser |
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