PROLOG

1936



Heute morgen habe ich einen sehr interessanten Artikel im »Daily New Yorker«, meiner Zeitung, gelesen. Ich sage meine Zeitung, weil sie mir seit vielen Jahren gehört, zusammen mit fünf, sechs anderen, von den Zeitschriften gar nicht zu reden, und weil ich lange Zeit ihr Chefreporter war. Mit dieser regelmäßigen Tätigkeit habe ich aufgehört – immerhin bin ich siebzig. Aber ab und zu schreibe ich noch was, und wehe, die Redaktion wagt es, daran herumzumäkeln!
Ansonsten genieße ich den Ruhestand und freue mich des Lebens in meiner schicken Frank-Lloyd-Wright-Villa über dem Hudson: weiß, nur Geraden und rechte Winkel – die schiere Mathematik. Darum habe ich sie auch »Zwei plus zwei gibt vier« genannt oder kurz »Zweiplus«.
Was wollte ich sagen? Richtig. Als ich den Artikel las, mußte ich nach langer Zeit wieder an ein Abenteuer denken, das ich vor zwanzig Jahren drüben im alten Europa erlebt hatte. Sie wissen ja, meine Damen und Herren, meine Zeit mit Professor Dr. Dr. Dr. Augustus van Dusen, genannt »Die Denkmaschine«, war das Highlight meines Lebens. Ich hatte bekanntlich die Ehre, dem großen Wissenschaftler und Amateur-Kriminologen als Assistent und Chronist zu dienen. Zwar habe ich die große Van-Dusen-Chronik mit all ihren unerhörten, unglaublichen, ungeheuerlichen Fällen schon vor Jahren abgeschlossen – ein Fall ist aber noch immer nicht erzählt. Vergessen habe ich sie nicht, die sensationelle Affäre um die geheime Mission des Luftschiffs L 100, die den Verlauf des Weltkriegs ändern sollte und das auch fast geschafft hätte. Ich war mir jedoch nie ganz sicher, ob sie wirklich im eigentlichen Sinn in die Van-Dusen-Chronik gehörte. Als sie sich abspielte, war der Professor immerhin schon vier Jahre tot, versunken mit der »Titanic«. Dennoch war er sehr präsent, und ohne seinen Beistand hätte ich die Sache wohl kaum lebend überstanden. Insofern –
Mein lieber Hatch, reden Sie nicht herum, kommen Sie zur Sache!
Ihr Wunsch ist mir wie immer Befehl, Professor. Also dann...
Meine Damen und Herren, gehen Sie mit mir zwanzig Jahre zurück, nach Deutschland. Genauer: nach Staaken bei Berlin. Noch genauer: zu den dortigen Luftschiffwerken. Und da wir nun schon mal bei der Genauigkeit sind – es war am l. Mai 1916, einem Sonntag, um die Mittagszeit...
   
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© 2009 Michael Koser