Die Jagd nach dem Goldservice

von Jacques Futrelle

 

VIII

Allein in ihrem Zimmer, den Schlüssel im Schloss umgedreht, verbrachte Miss Dollie Meredith eine vollkommene, wunderbare Zeit. Sie weinte und lachte und schluchzte und erschauerte; sie war schwermütig und traurig und glücklich und melancholisch; sie träumte Träume von der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart; sie sang närrische kleine verzückte Lieder und vergoß wieder Ströme von Tränen. Ihr Vater hatte sie mit einem strengen Verweis auf ihr Zimmer geschickt, und sie kicherte fröhlich, als sie daran dachte.

»Im Grunde ist ja nichts passiert«, versicherte sie sich selbst. »Natürlich war es dumm von ihm, das Zeug zu – zu nehmen, aber es ist nun ja wieder zurück, und er erzählte mir die Wahrheit, und er hatte sowieso die Absicht gehabt, es zurückzugeben«. In ihrem gegenwärtigen Gemütszustand würde sie alles gerechtfertigt haben. »Und er ist nicht ein Dieb oder so etwas. Ich glaube nicht, dass Vater jemals seine Zustimmung geben wird, deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als durchzubrennen, und das wird – absolut wunderbar sein. Papa wird zuerst vor Zorn außer sich sein, aber dann wird er sich schon wieder beruhigen.«

Ein wenig später kuschelte sich Dollie unter das Battlaken und lag ruhig in der Dunkelheit, bis der Schlaf sie übermannte. Stille herrschte im Haus. Es war um zwei Uhr in der Früh, als sie sich plötzlich mit erschrockenen Augen im Bett aufsetzte. Sie hatte etwas gehört – oder besser gesagt, sie hatte in ihrem Schlaf den Eindruck gewonnen, etwas zu hören. Sie lauschte angestrengt, als sie sich umschaute.

»Er ist das liebste Geschöpf in der Welt!«
Schließlich hörte sie tatsächlich etwas – etwas klopfte einmal scharf an das Fenster. Dann folgte wieder Stille. Eine Gänsehaut überzog Dollie's Körper bis zu ihren rosa Zehen. Es herrschte wieder Stille, und dann kam wieder ein scharfes Klicken am Fenster, woraufhin Dollie mit ihren nackten Füßen aus dem Bett trippelte und zum Fenster rannte, das ein paar Zentimeter offen war.

Mit der größten Vorsicht starrte sie hinaus. In den Schatten unter sich machte sie die unscharfe Form eines Mannes aus, der sich dort herumdrückte. Während sie noch schaute, schien sie sich zu einem Knäuel zusammenzuziehen und sich dann sehr rasch ausstrecken. Unwillkürlich duckte sie sich. Da ertönte ein weiterer scharfer Klick am Fenster. Der Mann unten warf Kieselsteine gegen die Scheibe, ganz offensichtlich, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Dick, bist du das?«, rief sie vorsichtig.

»Sh-h-h-h!«, kam die Antwort. »Hier ist ein ein Briefchen für dich. Öffne das Fenster, damit ich es hineinwerfen kann.«

»Bist du das wirklich und wahrhaftig selbst?«, wollte sie wissen.

»Ja«, kam die eilig geflüsterte Antwort. »Schnell, da kommt jemand!«

Dollie schob das Fenster hoch und trat zurück. Ein wirbelndes, weißes Objekt kam durch das Fenster geflogen und fiel lautlos auf den Teppich. Dollie stürzte sich voll gespannter Ungeduld darauf und lief wieder zum Fenster. Unten sah sie die zurückweichende Form eines Mannes. Andere Schritte entpuppten sich als ein massiger Polizist, der vorbeischlenderte, möglicherweise eine ruhige Ecke für ein Nickerchen suchend.

Schaudernd vor Erregung schloss Dollie das Fenster und zog die Jalousie herunter, anschließend entzündete sie das Gaslicht. Sie öffnete das Briefchen ungeduldig und setzte sich auf den Boden, um es zu lesen. Nun bestand ein großer Teil dieses Briefchens aus unwesentlichem Geschwafel von höchst gefühlsbetonter Natur – von lebenswichtiger Bedeutung aber war das Konzept eines neuen Plans für das Durchbrennen, das am Mittwoch stattfinden musste, um noch rechtzeitig ein um halb drei Uhr Nachmittag nach Europa auslaufendes Schiff zu erreichen.

Dollie las das zerknitterte Blatt wieder und wieder, und nachdem sich ihr seine Formulierungen unauslöschlich eingeprägt hatten, verschwendete sie eine unglaubliche Zahl von Küssen darauf. Das war natürlich schiere Extravaganz.

»Er ist das liebste Geschöpf in der Welt!«, erklärte sie.

Widerstrebend verbrannte sie das Briefchen und entledigte sich sorgfältig der Asche, indem sie sie aus dem Fenster vertreute, woraufhin sie in ihr Bett zurückkehrte. Am folgenden Morgen, dem Montag, starrte der Vater ernst auf seine Tochter, als sie gelassen den Frühstücksraum betrat. Er versuchte etwas zu lesen, wozu noch kein Mann je fähig gewesen war – die Miene einer Frau. Dollie lächelte ihn reizend an.

Nach dem Frühstück hatten Vater und Tochter ein kleines Gespräch in einer sonnigen Ecke der Bibliothek.

»Ich habe für uns geplant, dass wir nächsten Donnerstag nach Baltimore zurückkehren«, informierte er sie.

»Oh, das ist ja herrlich!«, strahlte Dollie.

»Angesichts der Ereignisse und deines gebrochenen Versprechens an mich – das Versprechen, Herbert nicht mehr wiedersehen zu wollen – denke ich, dass das am Klügsten ist«, fuhr er fort.

»Wahrscheinlich ist es das«, sinnierte sie.

»Warum hast du ihn überhaupt sehen wollen?«, verlangte er zu erfahren.

»Ich stimmte zu, ihn zu sehen, nur um ihm Lebewohl zu wünschen«, antwortete Dollie nüchtern, »und um ihm meine Position in dieser Angelegenheit absolut klar zu machen.«

Oh, Frau! Perfide, unaufrichtige, loyale, charmante Frau! Alle verhedderten Stränge des Lebens sind das Werk deiner zierlichen Finger. Alle Sünden und Sorgen sind dein Tun!

   
»Du liebst ihn ja eigentlich nicht wirklich«
Mr. Meredith rieb sich nachdenklich sein Kinn.

»Du kannst es als meinen Wunsch sehen – sogar als meinen Befehl«, sagte er, als er sich räusperte – denn Dollie Befehle geben zu wollen, war ein gefährliches Experiment – »dass du nie wieder versuchen darfst, auf irgendeinen Weg mit Mr. Herbert in Verbindung zu treten – sei es über Brief oder auf eine andere Weise.«

»Ja, Papa.«

Mr. Meredith war etwas überrascht über die Leichtigkeit, mit der er sich durchsetzte. Wenn er mit ein wenig mehr Weisheit in Bezug auf die Wege der Frauen gesegnet gewesen wäre, wäre er wohl misstrauischer gewesen.

»Du liebst ihn ja eigentlich nicht wirklich«, wagte er schließlich zu sagen. »Es handelte sich nur um eine mädchenhafte Vernarrtheit.«

»Ich habe ihm gestern genau erzählt, was ich von ihm halte«, erwiderte sie wahrheitsgemäß genug.

Und so endete die Unterredung.

Es war ungefähr zu Mittag dieses Tages, als Hutchinson Hatch Dick Herbert besuchte.

»Nun, was hast du herausgefunden?«, forschte er.

»Wirklich, alter Junge«, sagte Dick freundlich, »ich habe entschieden, dass es nichts gibt, was ich über diese Sache erzählen könnte. Es handelt sich schließlich um eine private Angelegenheit.«

»Ja, ich weiß das und du weisst das, aber die Polizei weiß das nicht«, kommentierte der Reporter grimmig.

»Die Polizei!«, Dick lächelte.

»Hast du sie getroffen?«, fragte Hatch.

»Ja, ich habe sie getroffen – und ihren Vater auch.«

Hatch sah die Tür, von der er gehofft hatte, dass sie zur Lösung des Rätsels führt, vor sich schließen.

»War Miss Meredith das Mädchen im Automobil?«, fragte er geradeheraus.

»Weißt du, ich werde das nicht beantworten.«

»Bist du der Mann, der das Goldservice gestohlen hat?«

»Ich werde auch das nicht beantworten«, erwiderte Dick lächelnd. »Nun, schau mal, Hatch, du bist ein netter Kerl. Ich mag dich. Es ist dein Beruf, Dinge auszuforschen, aber in dieser besonderen Angelegenheit habe ich es zu meiner Aufgabe gemacht, dich vom Ausforschen solcher Dingen abzuhalten. Dabei gehe ich auch das Risiko bezüglich der Polizei ein.« Er ging zum Reporter hinüber und wechselte einen freundlichen Händedruck mit ihm. »Glaube mir, wenn ich dir die reine Wahrheit erzählte – und zwar alles – könntest du es nicht drucken, es sei denn – es sei denn, dass ich festgenommen werde, aber ich beabsichtige nicht, das geschehen zu lassen.«

Hatch ging.

* * * * *

In dieser Nacht wurde das Randolph'sche Goldservice zum zweiten Mal gestohlen. Sechsunddreissig Stunden später verhaftete Detective Mallory Richard Herbert mit dem gestohlenen Goldservice in seinem Besitz. Dick brach in Lachen aus, als der Detective über ihn kam.

 

 

Die Denkmaschine

 

I

Professor Augustus S. F. X. Van Dusen, Ph. D., LL. D., F. R. S., M. D., etc., etc., galt als letzte Instanz in wissenschaftlichen Fragen. Er war fünf Fuß zwei Inches groß, wog 107 Pfund, also etwas über dem Normalgewicht, und trug Hutgröße acht. Buschiges, gelbes Haar hing unordentlich um seine Ohren und umrahmte teilweise ein glattrasiertes, verhutzeltes Gesicht, in dem sich die widersprüchlichen Eigenschaften von extremer Angriffslustigkeit und kindlicher Bockigkeit widerspiegelten. Der Mund bog sich an den Ecken ein wenig nach unten, bildete ansonsten aber eine gerade Linie, die Augen waren lediglich schmale Schlitze von Blau, stets durch dicke Brillengläser blinzelnd. Seine Stirn erhob sich steil nach oben, kuppelgleich, ja majestätisch sogar, und fügte seiner ganzen Erscheinung eine seltsam groteske Form hinzu.

Die Idee des Professors von leichter Literatur für die seltenen Momente der Erholung bestand in seitenweiser enzyklopedischer Diskussion um »ologies« und »isms«, mit einer ganzen Menge an Zahlen darin. Manchmal schrieb er diese Diskussionen selbst, und oft sorgte er auch für ihren Verriss. Sein gewohnter Tonfall war einer von tiefem Verdruss, und er verfügte über einen unerschüttlich starrenden Blick, der einen regelrecht durchdrang. Er war der Sohn eines Sohnes eines Sohnes eines berühmten deutschen Wissenschaftlers, das logische Ergebnis eines Geschlechtes, das in den Wissenschaften für Generationen einen ausgezeichneten Namen führte.

Fünfundreißig von seinen fünfzig Jahren waren der Logik, dem Studium, der Analyse von Ursache und Wirkung, geistig, materiell und psychologisch, gewidmet gewesen. Mit seinen persönlichen Leistungen hat er gnadenlos mindestens zwei der exakten Wissenschaften eingeebnet und neu eingestellt und in anderen unmessbar zu der Summe an Wissen hinzugefügt.

Einst hatte er den Stuhl für Philosophie an einer großen Universität inne, aber eines Tages verkündete er zufällig eine These, die der Fakultät nicht ins Konzept passte, und er wurde aufgefordert, seinen Platz zu räumen. Ein dutzend Jahre später wandte sich Universität offen an einflussreiche Kreise und die Diplomatie, um ihn zu bewegen, ihren LL. D. zu akzeptieren.

Über Jahre hinweg häuften fremde und amerikanische Institutionen – pädagogische, wissenschaftliche und andere – akademische Ehren auf ihn. Es kümmerte ihn nicht. Er benutzte die umfangreichen offiziellen Benachrichtigungen über diese unerwünschten Ehren zum Anzünden des Kaminfeuers und wandte sich wieder seiner Arbei in dem kleinen Laboratorium, das ein Teil seines bescheidenen Heimes war, zu. Dort lebte er praktisch als Einsiedler, um seine einfachen Bedürfnisse kümmerte sich Martha, eine gealterte Dienstbotin.

Das nun war Die Denkmaschine. Dieser letzte Titel, Die Denkmaschine, der den echten Mann wahrscheinlich besser charakterisierte als all die ehrenhalber verliehenen Initialen, war von Hutchinson Hatch geprägt worden, als der Wissenschaftler einen Schachmeister besiegte, nachdem er nur einen einzigen Morgen lang in das Spiel eingewiesen worden war. Die Denkmaschine hatte behauptet, dass Logik zwangsläufig ist, und das Spiel hatte seine Behauptung bewiesen. Anschließend war eine seltsame Freundschaft zwischen dem griesgrämigen Wissenschaftler und dem Reporter gewachsen. Hatch repräsentierte für den Wissenschaftler die große, geschäftige Außenwelt; für den Reporter war der Wissenschaftler reiner Verstand – ein herrlich scharfer, durchdringender, unfehlbarer Führer durch das weltliche Durcheinander weit entfernt von den feinen präzisen Arbeiten des Laboratoriums.

Nun saß Die Denkmaschine in einem riesigen Sessel in seinem Empfangssalon, die langen, schlanken Finger Spitze an Spitze gepresst und die blinzelnden Augen nach oben gewandt. Hatch sprach, hatte für mehr als eine Stunde mit seltenen Unterbrechungen gesprochen. In dieser Zeit hatte er die Fakten offengelegt, die er und die Polizei von den Ereignissen auf dem Maskenball in Seven Oaks bis zur Rückkehr von Dollie Meredith besaßen.

»Nun, Mr. Hatch«, fragte Die Denkmaschine, »was genau weiß man über diesen zweiten Diebstahl des Goldservices?«

»Das ist schnell erzählt«, erklärte der Reporter. »Es war ein glatter Einbruch. Irgendeine Person drang Montag Nacht in das Haus von Randolph ein, in dem er eine Glasscheibe herausschnitt und einen Fensterriegel öffnete. Wer immer es war, nahm das Goldservice und entkam. Das ist alles, was man weiß.«

»Hinterließ wahrscheinlich keinerlei Spur?«

»Nein, soviel man bis jetzt herausgefunden hat.«

»Ich nehme an, dass, nach seiner Rückkehr durch den Expressdienst, Mr. Randolph die Anweisung gab, das Goldservice in dem kleinen Raum wie früher aufzubewahren?«

»Ja.«

»Er ist ein Narr.«

»Ja.«

»Bitte machen Sie weiter.«

»Nun lehnt es die Polizei bis jetzt völlig ab, mitzuteilen, welche Beweise sie gegen Herbert über das Auffinden des Goldservices in seinem Besitz hinaus haben«, fuhr der Reporter fort, »obwohl das natürlich mehr als genug ist. Sie wollen auch nicht sagen, wie sie überhaupt dazu kamen, ihn mit der Affäre in Verbindung zu bringen. Detective Mallory –«

»Wann und wo wurde Mr. Herbert festgenommen?«

»Gestern, Dienstag, am Nachmittag in seinen Räumen. Vierzehn Stück des Goldservices lagen auf dem Tisch.«

Die Denkmaschine senkte für einen Augenblick seine Augen, um in Richtung des Reporters zu blinzeln.

»Beim ersten Mal wurden nur elf Stück des Goldservices gestohlen, sagten Sie?«

»Nur elf, ja.«

»Und ich glaube, Sie sagten, zwei Schüsse wurden auf den Dieb abgegeben?«

»Ja.«

»Wer hat geschossen, bitte?«

»Einer von den Polizeibeamten – Cunningham, glaube ich.«

»Es war ein Polizeibeamter – das wissen Sie genau?«

»Ja, das weiß ich genau.«

»Ja, ja. Bitte, machen Sie weiter.«

»Das Goldservice lag ausgebreitet da – keine Chance, es zu verbergen«, fuhr Hatch fort. »Es lag eine Schachtel auf dem Boden und Herbert war damit beschäftigt, das Zeug darin zu verpacken, als Detective Mallory und zwei seiner Männer eintraten. Herbert's Diener, Blair, war zu dieser Zeit abwesend. Seine Leute weilen oben in Nova Scotia, daher war er alleine.«

»Es wurde nichts weiter als das Goldservice gefunden?«

»Oh, doch!«, rief der Reporter aus. »Da war eine Menge Schmuck in einer Schatulle und fünfzehn oder zwanzig weitere Stücke – Zeug im Wert von mindestens fünfzigtausend Dollar. Die Polizei nahm es, um die Besitzer zu finden.«

»Du meine Güte! Du meine Güte!«, rief Die Denkmaschine aus. »Warum haben Sie den Schmuck nicht schon vorher erwähnt. Warten Sie eine Minute.«

Hatch schwieg, während der Wissenschaftler fortfuhr, zur Decke zu blinzeln. Er wand sich unbequem in seinem Sessel, bis Die Denkmaschine schließlich nickte.

»Das ist alles, was ich weiß«, sagte Hatch.

»Sagte Mr. Herbert irgendetwas, als er festgenommen wurde?«

»Nein, er lachte nur. Ich weiß nicht, warum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in irgendeiner Weise komisch für mich gewesen wäre.«

»Hat er seither irgendetwas gesagt?«

»Nein, nichts zu mir oder irgendeinen anderen. Es wurde bei der Voranhörung Anklage gegen ihn erhoben, er plädierte nicht schuldig und wurde gegen zwanzigtausend Dollar Kaution entlassen.«

»Gab er irgendeinen Grund für seine Weigerung, etwas zu sagen, an?«, beharrte Die Denkmaschine gereizt.

»Er bemerkte mir gegenüber, dass er nichts sagen würde, weil ihm niemand glauben würde, selbst wenn er die Wahrheit erzählte.«

»Wenn es sich um die Beteuerung seiner Unschuld gehandelt hätte, fürchte ich, würde ihm niemand geglaubt haben«, kommentierte der Wissenschaftler rätselhaft. Er war für einige Minuten schweigsam. »Es könnte möglicherweise ein Bruder gewesen sein«, grübelte er.

»Ein Bruder?«, fragte Hatch schnell. »Wessen Bruder? Was für ein Bruder?«

»Wie ich es verstanden habe«, fuhr der Wissenschaftler, die Frage nicht beachtend, fort, »glauben Sie nicht, dass Herbert des ersten Diebstahls schuldig war?«

»Nun, ich konnte es nicht«, beteuerte Hatch. »Ich konnte es nicht«, wiederholte er.

»Warum?«

»Ein einzelner Tropfen auf einem kleinen Stück Glas reicht völlig«
»Nun, weil – weil er nicht der Typ dafür ist«, erklärte der Reporter. »Ich kenne ihn seit Jahren, persönlich und durch seinen Ruf.«

»War auf dem College er ein besonderer Freund von Ihnen?«

»Nein, kein enger, aber er war in meiner Klasse – und er war ein fantastischer, erstklassiger Football-Spieler.« Das erklärte alles.

»Halten Sie ihn jetzt für schuldig?«, beharrte der Wissenschaftler.

»Ich kann eigentlich nichts anderes glauben – und doch würde ich mein Leben auf seine Ehrlichkeit verwetten.«

»Und Miss Meredith?«

Der Reporter stand kurz vor der Explosion. Er hatte Miss Meredith gesehen und gesprochen, Sie verstehen.

»Es ist vollkommen idiotisch anzunehmen, dass sie irgendetwas mit den Diebstählen zu tun hatte, glauben Sie nicht?«

Die Denkmaschine schwieg sich über diesen Punkt aus.

»Nun, Mr. Hatch«, sagte er schließlich, »das Problem läuft auf folgendes hinaus: Haben ein Mann und vielleicht eine Frau, die sich indizienmäßig des Diebstahls des Goldservices als schuldig erwiesen haben, es tatsächlich gestohlen? Wir haben die blutbefleckte Polsterung des Automobils, in dem die Diebe entkommen sind, um zu wissen, dass einer von ihnen verwundet wurde; wir haben Mr. Herbert mit einer verletzten rechten Schulter – eine Verletzung, die er nach eigener Aussage in dieser Nacht erhalten hatte, obwohl er nicht preisgeben will, wie. Wir haben dann den zweiten Diebstahl und das Auffinden des gestohlenen Gutes in seinem Besitz neben einer Menge von weiterem Diebesgut – Juwelen. Ganz offensichtlich handelt es sich um einen geklärten Fall, bei dem nun nichts weiter zu ermitteln ist.«

»Aber –«, begann Hatch zu protestieren.

»Aber angenommen, wir würden ein wenig weiterermitteln«, fuhr Die Denkmaschine fort. »Ich kann nach Klärung von nur zwei offenen Punkten genau, schlüssig und endgültig beweisen, ob Mr. Herbert in dem Automobil verwundet wurde oder nicht. Wenn er in diesem Automobil verwundet wurde, dann war er der erste Dieb, wenn nicht, dann war er es nicht. Wenn er der erste Dieb gewesen war, war er möglicherweise auch der zweite, aber auch wenn er nicht der erste Dieb gewesen war, besteht natürlich die Möglichkeit, dass er der zweite gewesen war.«

Hatch hörte mit offenem Mund zu.

»Ich schlage vor, wir beginnen nun damit,« setzte Die Denkmaschine fort, »den Namen des Arztes ausfindig zu machen, der Mr. Herbert's Wunde letzten Donnerstag Nacht behandelt hat. Mr. Herbert mag einen Grund haben, die Identität dieses Arzt geheim zu halten, aber vielleicht – warten Sie eine Minute«, und der Wissenschaftler verschwand im nächsten Raum. Er blieb für fünf Minuten verschwunden. »Finden Sie heraus, ob es sich bei dem Arzt, der die Wunde behandelte, um Dr. Clarence Walpole handelte.«

Der Reporter blinzelte ein wenig.

»Gut«, sagte er. »Und was dann?«

»Erkundigen Sie sich über die Art der Wunde und stellen Sie alle üblichen Fragen.«

Hatch nickte.

»Dann«, fuhr Die Denkmaschine beiläufig fort, »bringen Sie mir etwas von Mr. Herbert's Blut.«

Der Reporter blinzelte ziemlich und schluckte zweimal.

»Wieviel?«, erkundigte er forsch.

»Ein einzelner Tropfen auf einem kleinen Stück Glas reicht völlig«, erwiderte der Wissenschaftler.

 

II

Der Chefermittler des Metropolitan Districts übte sich im schweren Nachdenken, das sich, ehrlich gesagt, im Allgemeinen mit seinem eigenen blendenden Scharfsinn befasste. Gerade in diesen Moment konnte er sich an keinen Aufdecker von Verbrechen erinnern, dessen Glanz in irgendeiner Weise seinen eigenen trüben konnte, oder dessen bloßer Schatten überhaupt noch ein Recht hatte, auf dieselbe Erde zu fallen wie seiner; und diese Gedächtnisschwäche belebte seine Bewunderung für den Gegenstand seiner Gedanken so, dass er sich eine frische Zigarre anzündete und seine Füße auf die Mitte des Tisches legte.

Er saß noch so, als Die Denkmaschine vorbeischaute. Der Chefermittler – Mr. Mallory – kannte Professor van Dusen gut, und obwohl er seinen Besucher liebenswürdig empfing, hatte er kein Problem damit, sich jedes übertriebenen Ausbruchs an Begeisterung zu enthalten. Stattdessen veranlasste ihn dieselbe bewundernswerte Selbstkontrolle, die ihn daran hinderte, seine Freude nach außen hin sichtbar zu machen, sich in seinem Stuhl mit einer Aura von gönnerhafter Aggessivität zurückzulehnen.

»Ah, Professor,« war seine zurückhaltende Begrüßung.

»Guten Abend, Mr. Mallory«, erwiderte der Wissenschaftler in der dünnen, aufreizenden Stimme, die Mr. Mallory immer durch Mark und Bein ging. »Ich glaube nicht, dass Sie mir erzählen wollen, welche Gründe Sie veranlasst haben, Mr. Herbert festzunehmen?«

»Nein«, erklärte Mr. Mallory sofort.

»Nein; noch wollen Sie mich über die Natur des Beweises gegen ihn – zusätzlich zu den Juwelen und dem Goldservice, die in seinem Besitz gefunden wurden – informieren?«

»Nein«, wiederholte Mr. Mallory wieder.

»Nein, ich dachte mir schon, dass Sie das nicht wollen«, bemerkte Die Denkmaschine. »Nebenbei, wenn ich richtig verstanden habe, hat einer Ihrer Männer ein Lederpolster aus dem Automobil genommen, mit dem die Diebe in der Nacht des Diebstahls entkommen sind?«

»Und, was ist damit?«, wollte der Detective wissen.

»Ich wollte nur nachfragen, ob es mir erlaubt ist, diesen Polster sehen zu dürfen?«

Detective Mallory starrte ihn misstrauisch an, dann entspannte sich sein feistes Gesicht langsam, und er lachte, als er sich erhob und den Polster hervorholte.

»Wenn Sie versuchen, irgendein Geheimnis aus diesem Polster herauszulesen, haben Sie Pech,« informierte er den Wissenschaftler. »Wir kennen den Besitzer des Automobils, in dem Herbert und das Mädchen entkamen. Der Polster hat keinerlei Bedeutung.«

Die Denkmaschine untersuchte das schwere Leder sorgfältig und widmete seine ganze Aufmerksamkeit den verkrusteten Flecken, die es aufwies. Er kratzte mit seinem Taschenmesser an einem der braunen Flecken, bis er in seine Hand abbröckelte.

»Herbert wurde mit dem Diebesgut geschnappt«, erklärte der Detective, und er schlug mit seiner kräftigen Faust auf den Tisch. »Wir haben den richtigen Mann geschnappt.«

»Ja«, gab Die Denkmaschine zu, »es sieht ganz danach aus, dass Sie wirklich den richtigen Mann haben – fürs erste.«

Dertective Mallory schnaubte.

»Würden Sie mir bitte mitteilen, ob irgendwelche Juwelen, die Sie in Mr. Herbert's Besitz gefunden haben, identifiziert wurden?«

»Klare Sache«, antwortete der Detective. »Damit habe ich Mr. Herbert so gut wie überführt. Vier Leute, denen Schmuck auf dem Maskenball entwendet worden war, sind gekommen und haben Anspruch auf einzelne Stücke von diesem Zeug erhoben.«

Für einen Augenblick erschien eine leicht verblüffte Falte auf der Stirn der Denkmaschine, die aber genau so schnell wieder verschwand.

»Natürlich, natürlich«, grübelte er.

»Es ist der größte Fang an Diebesgut, den die Polizei dieser Stadt seit viele Jahre gemacht hat«, rückte der Detective selbstzufrieden heraus. »Und, wenn ich nicht falsch liege, kommt da noch mehr nach – kein Mensch weiß, wie viel mehr. Herbert muss ja über Jahre tätig gewesen sein, und durch sein gentlemanmäßiges Äußeres, seine Politur und das alles, kam er damit auch durch. Ich betrachte seine Festnahme als das bedeutendste Ereignis, das, seit ich mich der Polizei angeschlossen habe, eingetreten ist.«

»Wirklich?«, fragte der Wissenschaftler nachdenklich. Er starrte immer noch auf den Polster.

»Und die wichtigste Entwicklung kommt erst noch«, quasselte Detective Mallory weiter. »Das wird eine richtige Sensation sein und wird die Festnahme von Herbert rein nebensächlich erscheinen lassen. Es sieht ganz so aus, als ob da eine weitere Festnahme folgen wird, von einer – von einer gesellschaftlich hochstehenden Person, und alles das –«

»Ja«, unterbrach ihn Die Denkmaschine, »aber denken Sie wirklich, es ist klug, sie jetzt zu verhaften?«

»Sie?«, verlangte Detective Mallory zu hören. »Was wissen Sie über eine Frau?«

»Sie sprachen von Miss Dorothy Meredith, nicht?«, fragte Die Denkmaschine ausdruckslos. »Nun, ich fragte lediglich, ob Sie glauben, dass es klug für Ihre Männer ist, so weit zu gehen, sie zu verhaften.«

Der Detective zerbiss in offensichtlicher Beunruhigung seine Zigarre in zwei Teile.

»Wie – wie – kommt es, dass Ihnen ihr Name bekannt ist?«, wollte er wissen.

»Oh, Mr. Hatch erwähnte ihn mir gegenüber«, erwiderte der Wissenschaftler. »Ihm war seit einigen Tagen ihre Verwicklung in den Fall bekannt – wie auch jene von Herbert. Ich glaube, er hat mit beiden gesprochen.«

Der Chefermittler war fast einem Schlaganfall nahe.

»Wenn Hatch davon wusste, warum hat er es mir nicht mitgeteilt?«, donnerte er.

»Wirklich, ich habe keine Ahnung«, antwortete der Wissenschaftler. »Vielleicht«, fügte er knapp hinzu, »mag er die absurde Vorstellung gehabt haben, dass Sie es selbst herausfinden würden. Er hat manchmal so seltsame Einfälle.«

Als sich Detective Mallory wieder voll erholt hatte, war Die Denkmaschine gegangen.

Unterdessen hatte Hatch Dr. Clarence Walpole in dessen Büro aufgesucht und befragt – nur einen Steinwurf von Dick Herberts Haus entfernt. Hat Doktor Walpole kürzlich eine Wunde für Mr. Herbert verbunden? Doktor Walpole hatte. Eine Wunde, verursacht durch eine Pistolenkugel? Ja.

»Wann war das, bitte?«, fragte Hatch.

»Vor ein paar Nächten.«

»Vielleicht Donnerstag Nacht?«

Doktor Walpole zog einen Tischkalender zu Rate.

»Ja, Donnerstag Nacht, oder eher Freitag Morgen«, erwiderte er. »Es war zwischen zwei und drei Uhr. Er kam her und ich versorgte ihn.«

»Wo befand sich die Wunde, bitte?«

»An der rechten Schulter«, antwortete der Arzt, »genau hier«, und er berührte den Reporter mit einem Finger. »Es war nicht gefährlich, aber er hatte beträchtlich Blut verloren.«

Hatch war für einen Moment still, benommen. Jeder neue Punkt verstärkte den Beweis gegen Herbert. Der Ort der Wunde – eine Pistolenwunde – die genaue Stunde ihrer Versorgung! Dick hätte zwischen dem Zeitpunkt des Raubes, der vergleichsweise früh war, und der Stunde seines Besuchs bei Doktor Walpole mehr als genug Zeit gehabt, um all die Dinge, derer er verdächtig wurde, unternommen zu haben.

»Ich nehme nicht an, dass Mr. Herbert erklärt hat, wie er zu der Wunde gekommen ist?,« fragte Hatch besorgt. Er befürchtete, dass er das hatte.

»Nein. Ich fragte zwar, aber er wich der Frage aus. Es war natürlich auch nicht meine Angelegenheit, nachdem ich die Kugel herausgezogen und die Wunde versorgt hatte.«

»Sie haben die Kugel noch?«

»Ja. Sie hat die übliche Größe – Kaliber zweiunddreissig.«

Das war alles. Die Anklage war da, der Fall erwiesen, das Urteil gefällt. Zehn Minuten später wurde Hatch's Name Dick Herbert gemeldet. Dick empfing ihn finster, wechselte einen Händedruck mit ihm, und nahm sein unterbrochenes Auf- und Abschreiten wieder auf.

»Ich habe es abgelehnt, Vertreter von anderen Zeitungen zu empfangen«, sagte er müde.

»Nun, schau her, Dick«, protestierte Hatch, »möchtest du nicht irgendeine Aussage über deine Verwicklung in diese Affäre machen? Ich glaube ehrlich, dass es, wenn du es tust, dir helfen würde.«

»Nein, ich kann keine Aussage machen – und damit hat es sich.« Dick ballte grimmig seine Hand. »Ich kann nicht«, fügte er hinzu, »und es besteht keinerlei Notwendigkeit, darüber zu sprechen.« Er setzte sein Auf- und Abschreiten für einen Moment oder so wieder fort; dann drehte er sich zu dem Reporter um. »Hältst du mich für schuldig?«, forderte er ihn plötzlich auf.

»Ich kann mir nichts anderes vorstellen«, erwiderte Hatch stammelnd. »Aber was das betrifft, ich will es nicht glauben«. Es folgte eine verlegene Pause. »Ich habe gerade Dr. Clarence Walpole getroffen.«

»Und?«, Dick drehte sich zornig zu ihm um.

»Allein das, was er sagte, würde dich überführen, selbst wenn man das Zeug nicht hier gefunden hätte«, erwiderte Hatch.

»Versuchst du, mich zu überführen?«, verlangte Dick zu wissen.

»Ich versuche nur, die Wahrheit zu herauszufinden«, bemerkte Hatch.

»Es gibt genau einen Mann auf dieser Welt, den ich treffen muss, bevor die Wahrheit je erzählt werden kann«, erklärte Dick heftig. »Und ich kann ihn im Augenblick nicht finden. Ich weiß nicht, wo er sich aufhält!«

»Lass mich ihn finden. Wer ist er? Wie heißt er?«

»Wenn ich dir das erzählte, könnte ich dir genausogut alles erzählen«, fuhr Dick fort. »Um zu verhindern, dass dieser Nahme erwähnt wird, habe ich überhaupt erst zugelassen, dass ich in dieser Falle sitze. Es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit zwischen uns – zumindest will ich es so halten – und wenn ich ihn jemals treffen sollte –«, seine Hände schlossen und öffneten sich krampfartig, »dann wird die Wahrheit bekannt werden, es sei denn, ich – ich töte ihn zuerst.«

Verblüffter, verwirrter, und im großen und ganzen noch mehr durcheinander als je zuvor, griff sich Hatch mit seinen Händen an den Kopf, um ihn am Wegfliegen abzuhalten. Schließlich blickte er sich nach Dick um, der mit geballten Fäusten und zusammengepressten Zähnen dastand. Ein Schimmer von Wahnsinn lag in Dick's Augen.

»Hast du Miss Meredith wiedergesehen?«, fragte der Reporter.

Dick brach in Lachen aus.

Eine halbe Stunde später verließ Hatch ihn. Auf dem Glasrand eines Tintenfasses trug er drei wertvolle Tropfen von Herbert's Blut.

 

III

Wortgetreu, fast wie eine Schallplattenaufnahme, wiederholte Hatch vor der Denkmaschine die Unterhaltung, die er mit Doktor Walpole geführt hatte, und zeigte an der Person des berühmten Wissenschaftlers den genauen Ort der Wunde, so wie Doktor Walpole sie ihm gezeigt hatte. Der Wissenschaflter lauschte dem Vortrag ohne Kommentar, währenddessen er beiläufig die drei dunkelroten Tropfen auf dem Glas untersuchte.

»Jeder Schritt, den ich vorwärts mache, ist gleichzeitig ein Schritt zurück«, erklärte der Reporter zum Abschluss mit einem hilflosen Grinsen. »Anstatt aufzuzeigen, dass Dick Herbert das Goldservice nicht gestohlen hat, beweise ich endgültig, dass er der Dieb war – ich habe ihn so festgenagelt, dass er unmöglich da herauskommen kann.« Er schwieg für einen Moment. »Wenn ich lange genug so weitermache«, fügte er niedergeschlagen hinzu, »wird er noch hängen.«

Die Denkmaschine blinzelte ihn angriffslustig an.

»Sie glauben immer noch nicht, dass er schuldig ist?«, fragte er.

»Nun, ich – ich – ich –«, brach es heftig aus Hatch heraus. »Verdammt, ich weiß nicht, was ich glaube«, schaltete er etwas zurück. »Es ist vollkommen unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich, Mr. Hatch«, schnappte Die Denkmaschine gereizt. »Ein Problem kann im schlimmsten Fall schwierig sein, aber alle Probleme können so sicher gelöst werden wie zwei und zwei vier ergibt – nicht manchmal, sondern immer. Bitte sagen Sie nicht, dass Dinge unmöglich wären. Das ärgert mich zutiefst.«

Hatch starrte auf seinen distinguierten Freund und lächelte verlegen. Er war ebenfalls zutiefst verärgert über seine eigenen privaten individuellen Überlegungen – eine Verärgerung, die aus der vergeblichen Auseinandersetzung mit unwiderlegbaren Tatsachen entsteht..

»Die Aussage von Doktor Walpole,« fuhr Die Denkmaschine nach einem Moment fort, »macht dieses besondere Problem lächerlich einfach. Zwei Punkte allein zeigen überzeugend, dass Mr. Herbert nicht der Mann in dem Automobil war. Den dritten werde ich selbst entdecken.«

Hatch sagte nichts. In manchen Augenblicken ist die englische Sprache eigenartig unzulänglich, und wenn er etwas gesagt hätte, hätte er eine Phrase erfinden müssen, um auch nur einen schwachen Schimmer von dem, was er wirklich dachte, vermitteln zu können.

»Nun, Mr. Hatch«, setzte der Wissenschaftler ganz beiläufig fort, »wenn ich mich recht erinnere, graduierten Sie Achtundneunzig in Harvard. Ja? Nun, Herbert war dort ein Klassenkamerad von Ihnen. Bitte verschaffen Sie mir eine der gedruckten Listen der Studenten, die in diesem Jahr in Harvard studierten – eine komplette Liste.«

»Ich habe eine zu Hause«, sagte der Reporter.

»Bitte holen Sie sie auf der Stelle und kommen Sie hierher zurück«, wies ihn der Wissenschaftler an.

Hatch ging und Die Denkmaschine zog sich in sein Laboratorium zurück. Er blieb dort für genau eine Stunde und siebenundvierzig Minuten. Als er herauskam, fand er den Reporter wieder in seinem Empfangssalon sitzend vor, seinen Kopf aufgestützt. Die Miene des Wissenschaftlers war wie immer völlig unergründlich.

»Hier ist die Liste«, sagte Hatch, als er sie übergab.

Die Denkmaschine nahm sie in seine langen, schlanken Finger und blätterte zwei oder drei Seiten um. Schließlich hielt er inne und fuhr mit einem Finger eine Seite hinunter.

»Ah«, rief er zuletzt aus. »Das dachte ich mir schon.«

»Dachten was?«, fragte Hatch verwundert.

»Ich werde nun ausgehen, um Mr. Meredith aufzusuchen«, bemerkte Die Denkmaschine zusammenhanglos. »Kommen Sie mit. Haben Sie ihn schon mal getroffen?«

»Nein.«

Mr. Meredith hatte die Zeitungsberichte über die Festnahme von Dick Herbert und die Beschlagnahme des Goldservices und der Juwelen gelesen; er hatte sogar seine charmante Tochter auf eine väterliche Art und Weise damit verspottet. Sie weinte, weinte sich ihr Herz über diesen letzten Beweis von der Perfidie und Widerlichkeit des Mannes, den sie liebte, aus. Übrigens, es mag an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich der scharfsinnige Mr. Meredith nie eines Planes zum Durchbrennen bewusst gewesen war – weder des ersten noch des zweiten.

Als eine Karte, die den Namen von Mr. Augustus S. F. X. Van Dusen trug, Mr. Meredith übergeben wurde, ging dieser verwundert in den Empfangssalon. Es herrschte Schweigen, als der Wissenschaflter und Mr. Meredith sich gegenseitig geistig abschätzten; dann die gegenseitigen Vorstellungen – und Die Denkmaschine kam wie immer sofort zum Kern der Sache.

»Darf ich fragen, Mr. Meredith«, begann er, »wie viele Söhne Sie haben?«

»Einen«, erwiderte Mr. Meredith verblüfft.

»Darf ich nach seiner gegenwärtigen Adresse fragen?«, fuhr der Wissenschaftler fort.

Mr. Meredith studierte die streitlustigen Augen seines Besuchers und wunderte sich, was ihn das anging, denn Mr. Meredith gehörte selbst zu einer streitlustigen Sorte von Mensch.

»Darf ich fragen«, fragte er mit deutlicher Betonung auf dem persönlichen Fürwort, »warum Sie das wissen wollen?«

Hatch rieb sich nachdenklich sein Kinn. Er fragte sich, was mit ihm geschehen würde, wenn der Sturm losbrechen sollte.

»Es dürfte ihm und Ihnen eine große Menge an Ärger ersparen, wenn Sie mir seine Adresse geben wollten«, sagte Die Denkmaschine. »Ich wünsche mit ihm sofort über eine Angelegenheit von größter Bedeutung in Kontakt zu treten – eine rein persönliche Angelegenheit.«

»Persönliche Angelegenheit?«, wiederholte Mr. Meredith. »Ihr schroffes Benehmen, Sir, zielt nicht darauf ab, Vertrauen zu schaffen.«

Die Denkmaschine verbeugte sich ernst.

»Darf ich Sie um die Adresse Ihres Sohnes bitten?«, wiederholte er.

Mr. Meredith ließ sich die Sache einige Zeit durch den Kopf gehen und kam schließlich zum Schluss, dass er bitten dürfe.

»Er weilt zur Zeit in Südamerika – Buenos Aires«, erwiderte er.

»Was?«, rief Die Denkmaschine so plötzlich aus, dass beide, Hatch und Mr. Meredith, ein wenig zusammenfuhren. »Was?«, wiederholte er, und Falten erschienen plötzlich auf der gewölbten Stirn.

»Ich sagte, dass er in Südamerika weilt – Buenos Aires«, wiederholte Mr. Meredith steif, aber ein bisschen ehrfürchtig. »Ein Brief oder Telegramm über den amerikanischen Konsul in Buenos Aires würde ihn rasch erreichen.«

Die zusammengekniffenen Augen der Denkmaschine waren auf einen weit entfernten Punkt fixiert, die schlanken weißen Finger waren ineinander verkrampft, die Falten verharrten auf seiner Stirn.

»Wie lange befindet Mr. Meredith bereits dort?«, fragte er schließlich.

»Seit drei Monaten.«

»Sie wissen, dass er sich dort aufhält

Mr. Meredith wollte etwas sagen, schluckte es dann aber doch mit Mühe hinunter.

»Ich weiß es sicher, ja«, erwiderte er. »Ich erhielt diesen Brief von ihm, datiert am zweiten, vor drei Tagen, und heute traf ein Telegramm ein, das mir von Baltimore aus nach hier nachgeschickt wurde.«

»Sind Sie sich sicher, dass der Brief in der Handschrift Ihres Sohnes ist?«

Mr. Meredith erstickte fast an verwirrter Verwunderung und Ärger über die Frage und die Art, wie diese gestellt wurde.

»Ich bin mir sicher, ja«, antwortete er schließlich, seinen würdevollen Ton mit spürbarer Anstrengung aufrechterhaltend. Er bemerkte die unergründliche Miene seines Besuchers und nahm wahr, dass die Falten auf der Stirn plötzlich wie weggewischt waren. »Was geht es Sie überhaupt an?«, brauste Mr. Meredith plötzlich auf.

»Darf ich fragen, wo Sie sich letzten Donnerstag Nacht aufgehalten haben?«, fuhr die gleichmäßige, ruhige Stimme fort.

»Das geht Sie nichts an«, platzte Mr. Meredith heraus. »Ich war in Balitmore.«

»Können Sie das vor einem Gericht beweisen?«

»Beweisen? Natürlich kann ich es beweisen!« brüllte er seinen unbewegten Verhörer regelrecht an. »Aber das geht niemanden etwas an.«

»Wenn Sie es beweisen können, Mr. Meredith«, bemerkte Die Denkmaschine ruhig, kalt, »Sie sollten besser Ihre Vorbereitungen treffen, genau das zu tun, denn, glauben Sie mir, es könnte notwendig sein, um Sie vor der Anklage zu bewahren, das Randolph'sche Goldservice letzten Donnerstag Nacht auf dem Maskenball gestohlen zu haben. Guten Tag, Sir.«

 

 

(Fortsetzung folgt)